GPO 2024

Neugestaltung der Welthandelsorganisation: Ein Entwurf für nachhaltigen Handel

Die WTO steht kurz vor ihrem 30-jährigen Bestehen vor einer schwierigen Entscheidung: Soll sie sich weiterentwickeln, um den Herausforderungen des einundzwanzigsten Jahrhunderts gerecht zu werden, oder an die Peripherie der globalen Governance abdriften? Die Autoren argumentieren, dass sich die WTO-Mitglieder verpflichten sollten, das globale Handelssystem für eine nachhaltige Zukunft neu auszurichten.

Geneva Policy Outlook
5. Februar 2024
6 Minuten lesen
Foto von Venti Views / Unsplash

Daniel C. Esty, Trevor Sutton, Joel Trachtman und Jan Yves Remy

Viele Jahre lang hatte die Welthandelsorganisation (WTO) eine beneidenswerte Stellung als eine der effektivsten und einflussreichsten internationalen Wirtschaftsorganisationen inne. Heute jedoch steht die Organisation vor einer Legitimitätskrise. Geopolitischen Umständen unterstreichen die Zweifel am neoliberalen Wirtschaftsmodell, das dem Handelssystem seit 1980 zugrunde liegt, und schüren eine aggressiven Rivalität zwischen den USA und China. Auch die Entwicklungsziele bleiben für den Globalen Süden unerfüllt. Zusammengenommen stellen diese Punkte eine Anklage gegen die WTO – oder besser gesagt gegen die 164 Mitglieder der WTO – dar. Diese haben es nicht geschafft die Weltgemeinschaft zum Handeln gegen den Klimawandel und für eine nachhaltige Entwicklung zu verpflichten. Während die Organisation ihrem 30. Jubiläum entgegengeht, werden die WTO-Mitglieder schonungslos vor die Wahl gestellt: entwickelt die WTO weiter, um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu begegnen, oder lasst sie in eine gewisse Bedeutungslosigkeit abrutschen.

Während die Organisation ihrem 30. Jubiläum entgegengeht, werden die WTO-Mitglieder schonungslos vor die Wahl gestellt: entwickelt die WTO weiter, um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu begegnen, oder lasst sie in eine gewisse Bedeutungslosigkeit abrutschen.

WTO in der Krise

In gewisser Hinsicht lassen sich die derzeitigen Schwierigkeiten der WTO auf institutionelle Gestaltungsentscheidungen zurückführen, die zum Stillstand geführt haben, die Frustration sowohl großer als auch kleiner Volkswirtschaften geschürt haben und viele in dem Glauben zurückgelassen haben, dass das globale Handelssystem ihnen im Weg steht. Darüber hinaus verlangen WTO Regeln, dass Vereinbarungen im Konsens erzielt werden müssen – was in der Tradition des Handelssystems bedeutet, dass kein Mitglied dagegen stimmt – und dieses behindert Reformbemühungen. Allerdings wurde bis vor kurzem nur sehr wenig durch WTO Verhandlungen erreicht, seit das Gremium 1995 ins Leben gerufen wurde. Der erfolgreiche Abschluss der Gespräche über eine Reform der Fischereisubventionen im Jahr 2022 stach als Bruch mit dieser enttäuschenden Erfolgsbilanz hervor und war eine willkommene Erinnerung daran, dass Fortschritte in der Handelspolitik durchaus multilateral erzielt werden können – wenngleich wesentlich langsamer und stufenweiser, als es vielen genehm war, die lautstark nach einer WTO Reform verlangten.

In anderer Hinsicht ist das weltweite Handelssystem ein Opfer seines eigenen Erfolges. Da die WTO nun einmal darauf ausgelegt war, die wirtschaftliche Verflechtung und das Handelsvolumen zu vergrössern, ging sie so effizient in ihrer Mission zur Beseitigung von Handelsbarrieren vor, dass sie ein Ungleichgewicht schuf, welches dazu führte, dass das internationale System den daraus resultierenden Kommerz nicht mehr regulieren konnte. Dadurch reiben sich jetzt einige Mitglieder an eben dem System, das sie geschaffen haben. Im Falle der USA war dieser Wandel nichts weniger als eine Kehrtwende. War die weltgrösste Wirtschaft einst die stärkste Befürworterin einer Handelsliberalisierung gewesen, so hat sie seit 2018 das viel gepriesene System der WTO zur Streitbeilegung durch Zurückweisung der Sachverständigen im Berufungsgremium gelähmt.  

Der Gegenwind, welcher der WTO entgegenschlägt, ist im Laufe der Jahre immer heftiger geworden, als eine Reihe von Erschütterungen und eskalierender geopolitischer Spannungen die Weltmärkte in Aufruhr versetzte und Lieferketten durcheinanderbrachte. Dies führte dazu, dass grosse Volkswirtschaften von Abkopplung, Nearshoring und sogar Deglobalisierung zu sprechen begannen. In vielen Ländern scheint ein fundamentales Prinzip der Nachkriegswirtschaftsordnung in Vergessenheit geraten zu sein, nämlich die Ansicht, dass wirtschaftliche Wechselbeziehungen Frieden und die Sicherheit fördern. Um es mit den Worten von WTO Generaldirektorin Ngozi Okonjo-Iwaela auszudrücken: dieses Prinzip wird „angegriffen, und seine Errungenschaften sind in Gefahr”.

Wie heisst es so schön: Krisen sind Chancen. Doch Chancen allein werden die WTO nicht retten, wenn sich ihre Mitglieder nicht auf eine „eigentliche Mission und den ihr zugrundeliegenden Ethos“" einigen können, die den Glauben an die Fähigkeit des Handelssystems zurückbringen, es könne die grossen Herausforderungen unserer Zeit behandeln, wie es Dmitry Grozoubinski in der Ausgabe des Geneva Policy Outlook 2023 ausdrückte.  

Den Weg in die Zukunft neu denken

Anstatt der wirtschaftlichen Fragmentierung nachzugeben, sollten sich die WTO-Mitglieder lieber dafür einsetzen, das weltweite Handelssystem für eine nachhaltige Zukunft wieder in Gang zu bringen.

Trotz seiner aktuellen Fragilität kann das Handelssystem noch immer einen mächtigen Hebel für eine transformative Veränderung darstellen. Ein reformiertes internationales Handelsregime könnte neue Regeln und Verfahren für den weltweiten Handel festlegen, die einen gerechten Übergang in eine Zukunft mit erneuerbarer Energie und somit auch einen Richtungswechsel hin zu einer nachhaltigeren internationalen Wirtschaftsordnung fördern. Natürlich wäre es übertrieben zu behaupten, dass viele der drängendsten Probleme, denen die Menschheit aktuell gegenübersteht, nicht ohne den Handel – und dessen Fähigkeit, innovative Ideen, Technologien, Dienstleistungen und Infrastrukturen mit hoher Geschwindigkeit und auf breiter Basis auf der ganzen Welt zu verbreiten – gelöst werden können. Schreibt man die WTO also ab, dann setzt man im Kampf gegen Klimawandel, Verlust der Artenvielfalt, Ernährungsunsicherheit, Ungleichheit sowie bei der Reaktion auf Pandemien und andere Bedrohungen die Erfolgsaussichten aufs Spiel.

Anstatt der wirtschaftlichen Fragmentierung nachzugeben, sollten sich die WTO-Mitglieder lieber dafür einsetzen, das weltweite Handelssystem wieder in Gang zu bringen um eine nachhaltige Zukunft zu gestalten. In einer kürzlich herausgegebenen Analyse erstellten die Verfasser dieses Artikels und eine Reihe anderer KollegInnen, die am Projekt Remaking Global Trade for a Sustainable Future (dt.: Erneuerung des Welthandels für eine nachhaltige Zukunft) beteiligt sind, eine umfangreiche Handelsreformagenda mit der Bezeichnung Villars Framework for a Sustainable Trade System (dt.: Villars-Rahmenkonzept für ein nachhaltiges Handelssystem), die darauf ausgelegt ist, die WTO und andere multilaterale Handelsinstitutionen zu diesem Zweck für das 21. Jahrhundert fit zu machen. Die Kernelemente dieser Agenda sind:     

  • Bekräftigung der Verpflichtungserklärung aus dem Marrakesch-Abkommen von 1994, mit dem die WTO ins Leben gerufen wurde, um den Handel so voranzutreiben, dass eine nachhaltige Entwicklung gefördert wird;
  • Anerkennung, dass das Handelssystem auf den grösseren politischen Kontext, in dem es operiert, und auf aktuelle öffentliche Prioritäten reagieren muss – insbesondere auf die Notwendigkeit einer Anpassung an die Verpflichtung der Weltgemeinschaft zur Klimaschutzagenda im Rahmen des Übereinkommens von Paris aus dem Jahr 2015 und an das im Klimapakt von Glasgow 2021 festgelegte Ziel, die Treibhausgasemissionen bis zur Mitte des Jahrhunderts auf Null zu senken;
  • Förderung eines neuen Konzepts zur Subventionierung, das über den derzeitigen Fokus auf die Möglichkeit von Handelsverzerrungen hinausgeht und den Schwerpunkt jetzt auf den Zweck der staatlichen Unterstützung und die Frage legt, ob die Finanzierung die Nachhaltigkeit fördert oder beeinträchtigt – was die Umlenkung von schädlichen Subventionen in Billionenhöhe zugunsten der Umstellung auf erneuerbare Energien, nachhaltige Landwirtschaft und andere Nachhaltigkeitsziele vereinfachen könnte;
  • Umstrukturierung der CO2-Grenzausgleichssysteme, um sicherzustellen, dass diese Systeme miteinander kompatibel sind, sorgfältig auf Grundlage vereinbarter Methodiken konzipiert werden und die HandelspartnerInnen, allen voran die Entwicklungsländer, nicht übermässig belasten;
  • Unterstützung inklusiverer Standardisierungsprozesse für gehandelte Waren, Dienstleistungen und Technologien, welche die Marktanbindung beibehalten und gleichzeitig die Nachhaltigkeitsziele verbessern;
  • Neuausrichtung des International Trade Centres (ITC) – eine in Genf ansässige Organisation, die sich schwerpunktmässig mit der Schaffung von Exportmöglichkeiten für kleine und mittelständische Unternehmen in Entwicklungsländern befasst – als Sustainable Trade Centre (Zentrum für nachhaltigen Handel) mit einem erweiterten Mandat für den Aufbau von Kapazitäten, einem Innovationsschwerpunkt und grösseren Mitteln, um diese Unternehmen bei der Einhaltung der sich abzeichnenden Nachhaltigkeitsstandards zu unterstützen, mit denen sie es auf vielen Märkten zu tun haben;
  • Wiedereinführung einer Initiative für nachhaltige Waren/Dienstleistungen/Technologien zur Abschaffung von Zöllen und anderen Handelshemmnissen anhand von Faktoren, die für eine nachhaltige Entwicklung ausschlaggebend sind;  
  • Förderung von Kontrolle und Lenkung durch die WTO und von institutionellen Reformprozessen, um die Beweglichkeit bei Beratungen und Entscheidungsfindung im Handelssystem zu verbessern.

Im Laufe der nächsten Jahre stehen eine Reihe von Veranstaltungen zur Förderung dieser Agenda im Fokus des öffentlichen Interesses. Zu den wichtigsten gehört die 13. Welthandelskonferenz der WTO im Februar in Abu Dhabi, die als Startschuss für einen mehrjährigen Reformprozess dienen könnte. Der Aufbau einer Koalition für nachhaltigen Handel auf diesen Veranstaltungen verlangt von den WTO-Mitgliedern, dass sie einen neuen Geist der Verpflichtung zur Reform mitbringen und sich noch stärker und konsequenter auf die Geschäftswelt, zivilgesellschaftliche Organisationen und andere internationale Institutionen, wie die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), die UN-Konferenz für Handel und Entwicklung, das UN-Umweltprogramm und die Internationale Organisation für Normung (ISO), einlassen.  

Für die WTO und das Handelssystem stellt Trägheit die grösste Gefahr beim Vorankommen dar. Auf der ganzen Welt investieren Regierungen Milliarden, um CO2-reduzierte Industriezweige anzukurbeln, welche gut darauf eingestellt sind, die Weltwirtschaft in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts zu dominieren. Die Frage ist nur, ob diese grüne Revolution zu Bedingungen erfolgt, die einen fairen Wettbewerb, gemeinsamen Wohlstand und nachhaltige Entwicklung fördern – oder eher einen weltweiten Rutsch zum Merkantilismus begünstigen, der von destabilisierenden Konkurrenzkämpfen, einem wachsenden Wohlstandsgefälle und einer Verlagerung von Umweltverschmutzung und anderen gesellschaftlichen Übeln ins ferne Ausland heimgesucht wird. Ein wiederbelebtes und inklusives Handelssystem könnte einen wichtigen Ansatzpunkt zur Ergreifung von Massnahmen gegen den Klimawandel, für den Übergang der Weltwirtschaft zu einer nachhaltigen Zukunft und die Regelung internationaler wirtschaftlicher Wechselbeziehungen darstellen, doch nur, wenn sich die Führungskräfte aus Überzeugung zu einer dringenden Änderungsreform verpflichten.


Über die AutorInnen

Dan Esty ist Hillhouse-Professor an der Yale-Universität mit gemeinsamer Berufung an die juristische Fakultät von Yale und die Yale-Fakultät für Umwelt.

Trevor Sutton ist Forschungsleiter im Remaking Trade Project (Projekt zur Erneuerung des Handels) und externer leitender Wissenschaftler im Energie- und Umweltreferat am Center for American Progress.

Joel P. Trachtman ist Professor für Völkerrecht an der Fletcher School of Law and Diplomacy, Tufts-Universität.

Jan Yves Remy ist Leiter des Shridath Ramphal Centre for International Trade Law, Policy and Services an der University of the West Indies.

Alle vier Autoren des Artikels haben das Villars-Rahmenkonzept verfasst. 

Disclaimer
Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Meinungen sind die der Autoren. Sie geben nicht vor, die Meinungen oder Ansichten des Geneva Policy Outlook oder seiner Partnerorganisationen wiederzugeben.