GPO 2023

Die Reformdebatte in der Welthandelsorganisation reformieren

Alle sind sich einig, dass die WTO Reformen braucht – aber nicht welche. Da der Handel im Zentrum des steigenden Spannungen der Geopolitik, ist der Wiederaufbau eines multilateralen Systems, dem alle Seiten vertrauen, von entscheidender Bedeutung.

Geneva Policy Outlook
30. Januar 2023
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Foto von CHUTTERSNAP / Unsplash

Dmitry Grozoubinski

Dieses Jahr ordnete die 12. Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO) ausdrücklich an, dass auf die „notwendige Reformierung der WTO“ hingearbeitet werden müsse. Bei der WTO handelt es sich um eine multilaterale Organisation, bei der die Grundregeln des internationalen Handels verhandelt, überwacht und in Streitfällen entschieden werden. Doch es war vermutlich einfacher, Reformen anzuordnen, als sich nun darauf zu einigen, was diese Reformen beinhalten sollten.

Als internationale Organisation bleibt die WTO nach wie vor von Bedeutung. Sie bildet die Basis für gemeinsame Regeln für den Fluss von Waren, Dienstleistungen, Kapital, Menschen und Ideen, die für das Funktionieren der Volkswirtschaften des 21. Jahrhunderts unentbehrlich sind. Ausserdem bietet sie einen berechenbaren Prozess und ein Forum für die friedliche Beilegung von Handelskonflikten.

Wenn die Reform nicht in der Lage ist, diese gemeinsame Investition in das System aufrechtzuerhalten und wieder aufzubauen, wird das System schrumpfen und zusammenbrechen.

Seit ihrer Gründung im Jahr 1995 ist die WTO mit ihrer Reformierung nur stückweise vorangekommen – es wurden gerade einmal zwei neue Vereinbarungen hinzugefügt und höchstens marginale Fortschritte in den Bereichen Handelserleichterungen, Exportsubventionen für die Landwirtschaft und schädlichen Fischereisubventionen erzielt. Tatsächlich kann man das als Rückzugsgefecht sehen, denn selbst einige der an ihrer Schaffung massgeblich beteiligten Mitglieder reiben sich zunehmend an den Einschränkungen, die eine WTO-Mitgliedschaft mit sich bringt. Das stellt eine existenzielle Bedrohung für die Relevanz der WTO dar, denn die Organisation beruht fast gänzlich auf dem gemeinsamen Glauben der Mitglieder an ihre eigentliche Mission und den ihr zugrundeliegenden Ethos. Meistens beteiligten sich die Mehrheit der WTO-Mitglieder an den Prozessen der WTO und befolgen auch überwiegend die WTO-Regeln - denn sie sind überzeugt, dass dies in ihrem eigenen Interesse liegt und dass die anderen es genauso halten. Wenn die Reform nicht in der Lage ist, diese gemeinsame Investition in das System aufrechtzuerhalten und wieder aufzubauen, wird dieses System zusammenbrechen.

Die im Juni 2022 abgehaltene 12. WTO-Ministerkonferenz (MC12) wurde als Erfolg gefeiert, hauptsächlich deshalb, weil ihre bescheidenen Errungenschaften die noch tieferen Erwartungen übertrafen:

Das ist zwar alles lobenswert, doch kaum eine transformative Agenda für das 21. Jahrhundert. Es herrscht weiterhin keine Klarheit darüber, wie die Organisation ihre Regeln und Verfahren mit den wachsenden Bemühungen zur Bewältigung des Klimawandels, dem sich abzeichnenden geostrategischen Konkurrenzkampf zwischen den USA, der EU und China, dem stagnierenden Exportwachstum der am wenigsten entwickelten Länder (Least Developed Countries, LDC), dem Online-Handel, dem Auseinanderrücken von Geschäftswelt und Zivilgesellschaft oder anderen Fragen in Einklang bringen könnte.

Die WTO hat bisher keinen Konsens zu neuen oder überarbeiteten Regeln erzielt, die sich mit den Kernfragen befassen, zu deren Behandlung sie einst gegründet wurde: Tarifen, Subventionen und benachteiligenden Regulierungen. Erst kürzlich haben tiefgreifende Unstimmigkeiten innerhalb der Mitgliedergemeinschaft dazu geführt, dass das "Kronjuwel", nämlich die verbindliche Streitbeilegung, von den USA boykottiert wurde und dass sich eine Tendenz, unilaterale Massnahmen zu nutzen um entweder Schlupflöcher in den WTO-Regeln auszunutzen oder diese gänzlich zu ignorieren, etablierte.

Es gibt vielfach Rufe nach Reformen, und dennoch sind sich die Mitglieder im Prinzip uneins darüber, worum es bei diesen „Reformen“ gehen soll:

  • Einige Mitglieder glauben, eine Reform bedeute eine Überarbeitung der Handelsregularien, sei es um Schlupflöcher für Unternehmen unter staatlichem Einfluss zu schliessen, den Regierungen mehr politischen Spielraum zu geben, damit sie sich um die Herausforderungen im Umweltschutz kümmern können, oder den Entwicklungsländern mehr Flexibilität einzuräumen.
  • Einige Mitglieder finden, Reformen sollten die Durchsetzung, Transparenz und Überwachung bestehender Verpflichtungen mit mehr Anreizen zur Einhaltung und schärferen Strafen bei Verstössen stärken.
  • Einige sehen Potential in einer erweiterten Rolle der Institution und ihres Sekretariats, mit der diese anstelle der derzeitigen Generaldirektorin die Leitung beim Ausbau der analytischen Leistung, der Einberufungsbefugnisse und der Überzeugungskraft der WTO übernehmen, um so neu entstehende Herausforderungen anzupacken.

Auch über die Rolle von InteressenvertreterInnen als aktive Teilnehmende an Debatten gibt es sehr unterschiedliche Meinungen. Die WTO ist traditionell ein Forum für die Vertretungen von Regierungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Einige Mitglieder sind der Meinung, die Zivilgesellschaft und Unternehmen sollten eine grössere Rolle spielen, damit die Relevanz und die Triebkraft der Organisation erhalten bleibt, während andere solche Vorschläge kritisch beurteilen.

Sämtliche Reformgespräche müssen sich auch mit dem Problem der plurilateralen Initiativen auseinandersetzen: Dabei handelt es sich um Untergruppierungen von Mitgliedern, die Abkommen schliessen möchten, welche sich zwar weitgehend innerhalb des WTO-Rahmens bewegen, die dazu aber nicht auf eine WTO-Vollmitgliedschaft angewiesen sind bzw. keine solche anstreben. Diese Initiativen arbeiten unter anderem an der Erleichterung von Investitionen, neuen allgemeinen Regeln im E-Commerce und einer transparenteren und planbaren Regelung von Dienstleistungen. Sie haben bereits einige Erfolge erzielt, aber auch offengelegt, dass es in den kontroversen philosophischen, rechtlichen, verfahrensorientierten und politischen Debatten und Reformdiskussionen zwangsläufig um den derzeit ungewissen und organisatorischen Ad-hoc-Ansatz ihnen gegenüber gehen muss.

Doch damit nicht genug: Gleichzeitig steht mit dem Abtreten des WTO-Berufungsgremiums, der höchsten und (wie manche sagen) entscheidenden Schiedsstelle der Organisation, die es unter die wenigen multilateralen Organisationen mit verbindlicher, unausweichlicher Streitbeilegung geschafft hat, ein weiterer Elefant im Raum. Indem die USA ihre Blockade des Berufungsgremiums durchsetzten, legten sie auch eine Liste mit Missständen vor, mit der sich jedes Reformgespräch befassen muss, das die Hoffnung hegt, dieses Gremium neu zu beleben (auch wenn einige selbst dann noch glauben, dass die USA schlicht befanden, eine in Sachen Handelsregeln rechtsverbindliche Schlichtungsstelle läge nicht in ihrem nationalen Interesse).

Die grossen AkteurInnen gehen geopolitisch stark gespalten in diese Verhandlungen.

Die USA und China betrachten internationale Angelegenheiten zunehmend aus dem Blickwinkel ihres eskalierenden geostrategischen Wettbewerbs. Sie werden jedes Reformkonzept genauesten unter die Lupe nehmen und sich davor hüten, sich zu Massnahmen zu verpflichten, die ihre Möglichkeiten zur Nutzung der ihnen zur Verfügung stehenden Handelsinstrumente beschneidet oder ihrem Konkurrenten Freiräume verschafft, um es ihnen gleich zu tun.

Die Europäische Union wird darauf abzielen, diese herausfordernden Voraussetzungen zu navigieren, und gleichzeitig die Handelsinterventionen verteidigen, die sie benötigt, um ihre Vision einer „Strategischen Autonomie“ aufzubauen, ihr Regulierungsmodell publik zu machen und ihre Märkte vor den Versuchen anderer zu „schützen“, die von der Arbitrage profitieren wollen, während die EU mit einer hochgesteckten Sozial- und Umweltschutzagenda voranprescht.

Die Gruppen der Schwellen- und Entwicklungsländer werden zuversichtlicher und selbstbewusster als je zuvor in diese Gespräche eintreten, aber auch gespaltener: Die traditionellen Blöcke werden gelegentlich aufbrechen, wenn einzelne Mitglieder verschiedene Strategien verfolgen, die ihren eigenen Entwicklungsstrategien und Wahrnehmung von Wirtschaftsnormen entsprechen.

Wenn das Vertrauen in die WTO als Forum für die Erörterung, Vereinbarung, Überwachung und Verfeinerung der Handelsregeln schwindet oder gänzlich untergeht, werden sich diese Diskussionen in kleinere Formate und Foren verlagern, in denen die Marktmacht der größeren Akteure die Ergebnisse weiter zu ihren Gunsten verzerren könnte.

Diese voneinander abweichenden Positionen zeigen, wie gestört das Umfeld für Reformgespräche ist. Doch die Notwendigkeit für Neugestaltung bleibt bestehen. Sollte der Glauben an die WTO als Forum für Gespräche, Vereinbarung, Überwachung und Verfeinerung der Handelsregeln nachlassen oder gänzlich untergraben werden, werden sich diese Debatten in kleinere Formate und Foren verschieben, wo die Marktmacht der grösseren AkteurInnen die Ergebnisse noch mehr zu deren Gunsten verzerren könnte. Kleinere Formate werden vermutlich weniger inklusiv und weniger transparent sein und den Mitgliedern auch keine so umfassende Vetomacht einräumen, wie sie der Konsensmechanismus der WTO bietet.

Die WTO muss ihre Relevanz wieder erstarken lassen, sei es durch konsensuale oder plurilaterale Massnahmen oder solche unter den Auspizien der WTO-Generaldirektorin, Dr. Ngozi Okonjo-Iweala. Die Herausforderungen eines zunehmend unbeständigen 21. Jahrhunderts verlangen eine Reaktion der Weltwirtschaft und bringen Spannungen und Reibungen mit sich, weil Regierungen nach ihren regulatorischen und gesetzgebenden Instrumentarien greifen. In diesen Fällen wird ein vertrauenswürdiges multilaterales Diskussionsforum mit transparenten Verfahren zur öffentlichen Darlegung von Beschwerden und Beilegung von Disputen unverzichtbar sein. Wer Interesse an einer solchen Vision hat, sollte sich Gehör verschaffen.


Über den Autor

Dmitry Grozoubinski ist Leiter der Geneva Trade Platform, die am Centre for Trade and Economic Integration am Geneva Graduate Institute angegliedert ist. Ausserdem ist er Berater für Verhandlungen und Handelspolitik bei ExplainTrade. Davor war er als Wirtschaftsunterhändler für Australien bei der Welthandelsorganisation tätig und hat an der Monash University einen Master in Diplomatie und Handel abgeschlossen.


Disclaimer

Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Meinungen sind die der Autoren. Sie geben nicht vor, die Meinungen oder Ansichten des Geneva Policy Outlook oder seiner Partnerorganisationen wiederzugeben.