GPO 2023

Der Imperativ des Mutes für Nachhaltigkeit und Inklusion

Im Zeitalter der Unsicherheit sollten Inklusion und Nachhaltigkeit Prioritäten auf unserer gemeinsamen Agenda bleiben. Mut ist ein operativer Imperativ, wenn wir die wahre Bedeutung einer humanistischen liberalen Tradition wiederbeleben wollen.

Geneva Policy Outlook
30. Januar 2023
6 Minuten lesen
Foto von Jeremy Bishop / Unsplash

Marie-Laure Salles

Die Menschheit und der Planet, auf dem sie zu Gast ist, stehen an einem noch nie da gewesenen Scheideweg. In einer von radikaler Unsicherheit geprägten Gegenwart können Inklusion und Nachhaltigkeit leicht ins Hintertreffen geraten. Stattdessen sollten sie unter diesen Voraussetzungen erst recht oberste Priorität erhalten – als ein Werkzeug für die Zukunft. Doch dazu braucht es Mut als neue treibende Kraft.

Diese Unsicherheit ist zum Grossteil hausgemacht. Es sind radikale Zeiten, denn das blosse Überleben unserer Spezies steht auf dem Spiel. Das Anthropozän und seine mannigfaltigen Folgen, unser Atomwaffenarsenal und das transhumanistische Projekt zur Überwindung der Menschlichkeit - das alles bringt ernsthafte Bedrohungen für unsere Existenz mit sich, welche sich die Menschheit im Wesentlichen selbst zuzuschreiben haben.

Dieses neue Zeitalter der radikalen Unsicherheit trifft mit grundlegenden Paradoxien zusammen und wird von diesen befeuert. Als Spezies haben wir unermessliche Reichtümer erschaffen, doch wurden diese noch nie so ungleich verteilt. Ausserdem begreifen wir, dass wir durch die Erzeugung dieser Reichtümer nicht-erneuerbare und lebensnotwendige natürliche Ressourcen zerstört haben, die Voraussetzung dafür sind, dass wir als einzelne Menschen und als Spezies überleben können. Wir haben in noch nie gekanntem Ausmass Wissen geschaffen und dennoch stehen wir vor der zunehmend mächtiger werdenden Dynamik von Falsch- und Desinformation. Unsere technologischen Fähigkeiten sind beispiellos, und dennoch kann uns ein unsichtbares Virus Existenzangst einflössen und unser Leben zum Erliegen bringen. Und schliesslich: noch nie waren wir so breitflächig und auf so tiefer Ebene miteinander vernetzt und noch nie haben wir uns so einsam gefühlt.

Wenn extreme Ungleichheit mit schwindenden lebenswichtigen Ressourcen einhergeht, können wir nur tiefgreifend zerstörerische gesellschaftliche und politische Folgen erwarten. Wenn die Desinformation die Oberhand gewinnt, bedroht sie unmittelbar unsere Fähigkeit zusammenzuleben und löst das soziale Gefüge und das Vertrauen auf, die uns normalerweise vor dem Chaos bewahren. Sobald der Zusammenbruch des Sozialen durch die Virtualisierung von nahezu allem begünstigt und beschleunigt wird, verwandelt es sich in eine systemimmanente Anomie, eine Verfassung, die Emile Durkheim als einen Zustand der Instabilität beschrieb, der aus der Zersetzung des Sozialen und einem Scheitern der gemeinsamen Normen resultiert. In unserem gegenwärtigen Zustand der Anomie wird Einsamkeit strukturell. Wie heute unverkennbar ist, haben systembedingte Anomie und strukturelle Einsamkeit weitverbreitete und langanhaltende negative psychologische Folgen. Letztere formen sogar zukünftige Generationen, wenn wir den jüngsten Forschungsergebnissen in epigenetischer Psychologie glauben dürfen.

Wenn wir Themen, Gesellschaften oder individuelle Körper und Seelen mit einem Verband nach dem anderen versehen, kann dies auf Kosten dringend notwendiger radikaler systemischer Veränderungen geschehen.

Was also können wir dagegen tun? Verzweifeln ist eine Möglichkeit, allerdings keine gute. Ein anderer Ansatz wäre, egoistisch nur nach sich selbst zu schauen - was aber angesichts der globalen Herausforderungen, die uns alle mit zunehmender Brutalität betreffen, zum Scheitern verurteilt ist. Die einzige Lösung besteht also im kollektiven Aktivismus. Wir neigen dazu, eine Herausforderung nach der anderen zu behandeln und dabei reaktiv und schrittweise vorzugehen, in der Absicht, einen negativen externen Effekt nach dem anderen zu kompensieren bzw. abzuschwächen. Im Ergebnis mögen wir so zwar die einzelnen Symptome behandeln, nicht jedoch das systembedingte Problem in seiner Vielschichtigkeit und Multidimensionalität. Der zunehmend schneller werdende Rhythmus, in dem wir in dieser Zeit der radikalen Unsicherheit auf Herausforderungen reagieren müssen, bürdet uns eine Art kurzfristiger Denkweise auf. Wenn wir Probleme, Gesellschaften oder einzelne Körper und Seelen immer nur verpflastern, dann tun wir das zu Lasten dringend benötigter radikaler systemischer Veränderungen. Durch solch paradoxe Dynamiken schieben wir womöglich Nachhaltigkeit und Inklusion auf die lange Bank, dabei sollten sie doch den Kernpunkt unserer Lösungen darstellen.

Was wir im Laufe der vergangenen Jahrzehnte aus dem Blick verloren haben, ist, dass Fortschritt nur dann legitim ist, wenn er ein Mittel zu einem besseren Leben für die Menschheit darstellt – was auch eine tiefe Achtung des Humus, der Erde, dem Planeten, impliziert, dem wir (Menschen) „gehören“, und von dem unser und das Wohlergehen anderer Spezies vollständig abhängen. Wir haben uns in eine seltsame Zwangslage gebracht – in der wir, die Menschen, aber auch die Natur und andere Spezies, zu Ressourcen und Korrekturvariablen im Dienste des wirtschaftlichen, finanziellen und technologischen Fortschritts geworden sind. Wenn wir nach neuen Lösungen für dieses Zeitalter der radikalen Unsicherheit suchen, sollte es genau anders herum sein: die Menschheit und der Planet sollten im Mittelpunkt stehen. Die gute Nachricht ist, dass dieses Dilemma von uns selbst errichtet wurde – was bedeutet, dass wir auch kollektiv beschliessen können, uns neu zu orientieren und eine andere Richtung einzuschlagen.

Wir müssen von einer Logik des Ausgleichs oder der Abmilderung negativer externer Effekte zu einer Logik übergehen, bei der die Regeneration (der Natur, der Menschen und der Gesellschaften) in den Kern all unserer Systeme - wirtschaftlicher, sozialer, politischer, technologischer und geopolitischer Art - integriert ist.

Die prinzipiell einfache Lösung lässt sich oft in der Praxis nur schwer umsetzen, weil uns die vielen Scheuklappen und eigennützigen Interessen daran hindern, der Dringlichkeit eines Paradigmenwechsels nachzukommen. Wir müssen kollektiv daran arbeiten, Nachhaltigkeit und Inklusion in den Mittelpunkt unserer Systeme zu integrieren. Wir müssen von einer Logik, der die Kompensation bzw. Abschwächung von negativen externen Effekten zugrunde liegt, zu einem Denken übergehen, bei der die Regeneration (der Natur, der Menschen und der Gesellschaften) planmässig der Kern all unserer Systeme darstellt – und zwar der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen, technologischen und geopolitischen Systeme. Dadurch würde die wahre Bedeutung einer humanistisch-liberalen Tradition neu belebt werden, die ihren Zweck in der heutigen Welt zu erfüllen mag. Die Menschheit, das menschliche Können und die menschliche Verantwortung in den Mittelpunkt zu stellen (die humanistisch-liberale Tradition), legt in unserer Gegenwart den Hauptschwerpunkt auf das Überleben unseres Planeten und eine gänzlich inklusive Definition von Menschlichkeit.

Selbst was Unmögliche erscheint, wird erreichbar, wenn es zu einem kollektiven Unterfangen wird, das durch die Dringlichkeit des Überlebens begründet ist. In den vergangenen Jahren wurde die globale Politik durch die oben besprochenen zentrifugalen, aufsplitternden und entropischen Tendenzen geschwächt. Wie können wir kollektives Handeln fördern, obwohl und indem wir uns eingestehen, dass wir in einem Archipel aus verschiedenartigen, wenn nicht gar unvereinbaren Wertesystemen leben? Tatsächlich können wir uns gerade wegen der gemeinsamen Bedrohung unserer Existenz – die Gefährdung der Umwelt, die Gefahr durch Atomwaffen oder die eher diffuse Bedrohung, die eine unkontrollierte Technologie für unsere Spezies mit sich bringt – wieder miteinander verbinden. Wir müssen uns wieder miteinander verbinden, indem wir übergeordnete Werte hervorheben, die in Zeiten radikaler Unsicherheit unerlässliche Überlebensmechanismen darstellen. Zusammenarbeit ist einer davon, denn die Widerstandskraft der menschlichen Spezies im Laufe der Zeit wäre ohne eine Zusammenarbeit nicht möglich gewesen. Zusammenhalt und Integrität sind ebenfalls zentral, vor allem, wenn es um Führungsverantwortung geht – und umgekehrt können viele der Schwierigkeiten, in denen wir uns heute befinden, durch das Fehlen von Führungsverantwortung im Vorstand vieler Institutionen und Organisationen erklärt werden. Am Ende ist Mut vielleicht der wichtigste Wert von allen.

Unser Zeitalter der radikalen Unsicherheit macht den Mut zu einer treibenden Kraft. Mut bedeutet nicht Wagemut. Nach Plato oder Aristoteles wird Mut definiert als „bedächtige Bestimmtheit“. Mut zu haben heisst nicht, Risiken, Gefahren oder Angst zu ignorieren, sondern zu wissen, wie man trotzdem lebt und handelt, indem man diese beherrscht. Mut ist von Natur aus eine Herzensangelegenheit – wir bekräftigen ihn, indem wir unsere Gefühle und unsere menschlichen Verletzlichkeiten annehmen. Doch Mut bedeutet auch Leidenschaft. Für Plato, ebenso wie für Konfuzius, kann wahrer Mut nur im Dienste von Integrität, Gerechtigkeit und Allgemeinwohl stehen. Mut ist mehr auf andere als auf das Ich ausgerichtet; er ist eine in hohem Masse soziale und zutiefst menschliche und humanistische Tugend. Für die PhilosophInnen stellt Mut eine Tugend dar, die erarbeitet, erworben, eingesetzt und vertieft werden kann. Indem wir regelmässig und wiederholt mutige Taten vollführen, werden wir mutiger. Unsere kollektiven „Mutreserven“ auszubauen, darauf können und müssen wir hinwirken.

Was bedeutet die Operationalisierung von Mut für das internationale Genf und dessen Führungspersonen, wenn es sich bei der Zielsetzung um so einen umfassenden Paradigmenwechsel handelt? Es bedeutet, aktiv zuzuhören und organisations-, spezialisierungs-, disziplin-, themen-, alters- und generationsübergreifend zu lernen. Es bedeutet, Risiken einzugehen, um Ideen abseits üblicher Denkschemen und innovative Lösungen selbst unter dem gewaltigen Druck des Alltags zu hegen und zu pflegen – und dem Erkunden Raum zu geben, selbst wenn der Druck ausnutzen zu müssen, hoch ist. Es bedeutet, bereit zu sein, dem unvermeidlichen Widerstand entgegenzutreten und ihn zu überwinden, da der Status Quo und die eigennützigen Interessen vermutlich stark sein werden. Es bedeutet Authentizität und Zusammenhalt – Handlungen und Entscheidungen auf allen organisatorischen Ebenen auf Nachhaltigkeit und Inklusivität auszurichten. Und schliesslich bedeutet es einen gewissen Grad an Selbstlosigkeit – mutige Leitungsverantwortung heisst oftmals Führung durch Untergeordnete, bei der das Ziel nicht persönliche Macht, sondern kollektive Veränderung ist. Auch wenn es sich dabei um einen hochgesteckten Entwurf handelt, so steht er doch im Verhältnis zu den Herausforderungen der Gegenwart.


Über den Autor

Marie-Laure Salles ist Direktorin des Geneva Graduate Institute.


Disclaimer

Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Meinungen sind die der Autoren. Sie geben nicht vor, die Meinungen oder Ansichten des Geneva Policy Outlook oder seiner Partnerorganisationen wiederzugeben.