GPO 2023

Die globale wirtschaftliche Kriegsführung braucht neue Regeln

Weitverbreitete Inflation, Rezession, Nahrungsmittelunsicherheit und Energieknappheit sind noch nie dagewesene globale wirtschaftliche Folgen des Krieges in der Ukraine. Die globale wirtschaftliche Kriegsführung bedarf einer internationalen Regulierung.

Geneva Policy Outlook
30. Januar 2023
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Foto von Jason Pofahl / Unsplash

Hugo Slim

Während ich diesen Text schreibe, erwachen die Menschen in der Ukraine nach einer weiteren Nacht russischer Bombardierung, die bewusst darauf abzielt, die Zivilbevölkerung durch die Zerstörung wichtiger Kraftwerke zu treffen. Heute werden sich erneut Millionen von ZivilistInnen nicht warmhalten, kein warmes Essen zubereiten, Kleidung waschen, Krankenhäuser, Schulen und Banken betreiben, Computer anschalten oder Handys aufladen können.

Das ist wirtschaftliche Kriegsführung – eine klassische Kriegsstrategie, die darauf abzielt, die privaten Haushalte der feindlichen Bevölkerung und deren wirtschaftlichen Möglichkeiten zu zersetzen bzw. zu zerstören – die ursprüngliche griechische Bedeutung des Wortes Ökonomie. In vorneuzeitlichen landwirtschaftlichen Gesellschaften gehörte zur wirtschaftlichen Kriegsführung auch die Politik der verbrannten Erde, bei der Felder und Scheunen voller Ernteerträge niedergebrannt, Brunnen vergiftet und umfangreiche Plünderungen durchgeführt wurden. Neben der Bombardierung umfasst die russische Strategie auch die Blockade ukrainischer Häfen und die Plünderung von möglichst viel landwirtschaftlichem und industriellem Material aus den unter russischer Besatzung stehenden Gebieten der Ukraine.

In diesem Krieg geht die wirtschaftliche Kriegsführung in beide Richtungen. Die gegen Präsident Putin eingestellten westlichen Länder koppeln ihre Wirtschaften durch Investitionsabbau, Boykotte und Blockaden bewusst von der russischen Wirtschaft ab. Damit bezwecken sie, die russische Wirtschaft zu zersetzen und grossflächig Unzufriedenheit mit Putin in der russischen Bevölkerung zu schüren. Das Abkoppeln dient auch dazu, Putins Regierung als Paria zu brandmarken, mit dem man sich nicht verbünden sollte.

Im Euphemismus des UN-Vokabulars bezeichnen die westlichen Staaten ihren Wirtschaftskrieg als Sanktionen. Solche Sanktionen führen ebenfalls zu Leid in der Zivilbevölkerung und sind zum Teil dafür verantwortlich, dass Tausende von RussInnen nach Armenien und Georgien flüchten, dass viele russische Geschäfte schliessen, und dass es zu einer Krise in der Ersatzteilproduktion gekommen ist. Gleichzeitig verlieren viele westliche Unternehmen und Angestellte durch den Investitionsabbau ihr Vermögen, ihre Einkünfte und ihre Arbeitsplätze.

Dieser Wirtschaftskrieg hat in diesem grossen Machtkonflikt tatsächlich globale Auswirkungen. Dadurch hebt sich dieser Krieg in der jüngsten Geschichte der wirtschaftlichen Kriegsführung deutlich ab.

Ein “grosser” Krieg bedeutet “grosse” wirtschaftliche Kriegsführung

In den letzten dreissig Jahren haben sich sowohl ÖkonomInnen als auch MenschenrechtsaktivInnen intensiv mit Kriegswirtschaften auseinandergesetzt. Sie haben enthüllt, wie Regierungen und bewaffnete Gruppierungen Kriege als „Wirtschaftlichkeit durch andere Mittel“ genutzt haben und wie staatliches Versagen mit der gewaltsamen Ausbeutung natürlicher Ressourcen durch Eliten verknüpft ist. In den Kriegen in Liberia, Sierra Leone, der Demokratischen Republik Kongo und Myanmar wurde eine deutliche Verbindung zwischen Krieg, Nutzholz, Diamanten und anderen natürlichen Ressourcen hergestellt. Es gab auch eine gründliche Untersuchung der Auswirkungen von Wirtschaftsrestriktionen auf die Menschen im Irak, die zu einem besseren Verständnis der humanitären Folgen von Sanktionen beitrug.

Aber der Krieg in der Ukraine ist ein großer Krieg. Er ist ein Krieg zwischen zwei großen Volkswirtschaften und eine umfassendere Konfrontation zwischen zwei Weltmächten - Russland und den NATO-Ländern. Die wirtschaftliche Kriegsführung dieses Konflikts betrifft Hunderte von Millionen Menschen auf der ganzen Welt, die sich Tausende von Kilometern außerhalb des militärischen Kriegsgebiets befinden.

Diese Kriege waren relativ klein und wurden zwischen kleinen Armeen in armen und international machtlosen Staaten ausgefochten. Dennoch litten Millionen ZivilistInnen unter dieser wirtschaftlichen Kriegsführung. Doch der Ukraine-Krieg ist ein “grosser” Krieg. Es ist ein Krieg zwischen zwei bedeutenden Wirtschaften und Teil einer grösseren Auseinandersetzung zwischen zwei Weltmächten – Russland und den NATO-Ländern. Die wirtschaftliche Kriegsführung in diesem Konflikt beeinträchtigt hunderte Millionen von Menschen auf der ganzen Welt, die sich Tausende von Kilometer ausserhalb des militärischen Kriegsgebiets befinden. Als ein Krieg, der sich in verschiedenen Domänen abspielt, birgt dieser Wirtschaftskrieg auch das Risiko von verheerenden Angriffen und Blockaden in der globalen Cyber-Wirtschaft.

Wenn Grossmächte miteinander in einen Wirtschaftskrieg treten, hat das Einfluss auf die Weltwirtschaft. Die nachhallenden Folgen sind weltweit spürbar und erreichen Milliarden von Menschen. Russland mag sich nicht als grosse Militärmacht bewiesen haben, doch mit seinen Öl- und Gasvorkommen ist das Land eine bedeutende Energiemacht. In Polen und dem Vereinigten Königreichen zittert in diesem Winter die Zivilbevölkerung vor Kälte wegen des Energiekriegs um die Ukraine. Den Menschen in Ostafrika, Westafrika und dem Nahen Osten gehen die Lebensmittel aus und sie erleben Preissteigerungen, weil Blockaden rund um die Ukraine Lebensmittel- und Düngerlieferungen behindern, sofern sich das UN-Exportprogramm über das Schwarze Meer nicht behaupten kann.

Der Schock der wirtschaftlichen Kriegsführung in Liberia und Sierra Leone führte zu wichtigen neuen Vorschriften für den Handel mit Diamanten und anderen Konfliktmineralien. Sollte die weltweite wirtschaftliche Kriegsführung jetzt ähnlichen Vorschriften und Neuregelungen unterworfen werden? Und falls ja, wie sollten diese aussehen?

Wirtschaftliche Kriegsführung regulieren

Inmitten einer neuen Bombardierungswelle von Seiten Putins debattieren internationale JuristInnen über die Rechtmässigkeit von Angriffen auf „Dual-Use“-Einrichtungen im Krieg – Infrastruktur, die sowohl Streitkräften als auch der Zivilbevölkerung dient. Solche Ziele sind unter bestimmten Umständen rechtmässig. Ausserdem diskutieren sie darüber, welche natürlichen Ressourcen und welche Infrastruktur als „unverzichtbar für das Überleben der Zivilbevölkerung“ geschützt werden müssen und welche nicht.

Solche Kriegsgesetze, die das Leiden der Zivilbevölkerung bei Kriegshandlungen verringern, sind wichtig. Doch die begrenzte Definition der Zivilbevölkerung als ausschliesslich BürgerInnen der kriegsführenden Parteien bzw. als Menschen, die von den kriegsführenden Parteien beherrscht werden, schränkt ihre Sicht auf die weltweiten Folgen der wirtschaftlichen Kriegsführung ein. Ein grosser Wirtschaftskrieg verlangt, dass wir die Bestimmungen des Krieges und den Schutz auf jene Menschen ausdehnen, die Tausende von Meilen entfernt leben und deren Regierungen nicht an den Kriegshandlungen beteiligt sind. In vielen Fällen handelt es sich bei diesen Personen um entfernte Kollateralschäden.

Doch wie realistisch ist es, Regeln für die wirtschaftliche Kriegsführung aufzustellen? Sicher hat jedes Land und jedes Unternehmen das Recht zu wählen, worin es investiert und mit wem es Geschäfte macht. Zudem könnte es für Staaten ethisch sinnvoll sein, ihre wirtschaftliche Macht zu nutzen, um die Kriegsgefahr für die eigenen BürgerInnen gering zu halten und zu verhindern, dass ein Krieg eskaliert.

Dennoch wird von Regierungen verlangt, die Konsequenzen sämtlicher von ihnen vorgenommener Handlungen zu bedenken, da sich die öffentliche Politik nie in einem moralischen Vakuum abspielt. Das durch die wirtschaftliche Kriegsführung verursachte Leid muss mitberücksichtigt und wenn möglich vermieden bzw. gemildert werden.

Was könnte eine Regulierung also erreichen?

Vorsorgemassnahmen, Ausnahmen und Menschenrechte

Erstens könnte eine Regulierung das Prinzip von globalen Vorsorgemassnahmen in einem Wirtschaftskrieg bekräftigen und betonen, wie wichtig es ist, dessen ungerechte Folgen für die Menschen anzuerkennen bzw. zu verringern, die in weiter Entfernung vom Krieg leben und keinen Anteil an den Kämpfen haben. Solche globalen Vorsorgemassnahmen würden das allgemein anerkannte Verbot einer willkürlichen Kriegsführung stützen und sicherstellen, dass die wirtschaftliche Kriegsführung eingeschränkt wird.

Zweitens könnte vereinbart werden, dass bestimmte unentbehrliche Wirtschaftsgüter und Dienstleistungen stets von Blockaden ausgenommen bleiben müssen und keinen Anteil an den Folgen der wirtschaftlichen Kriegsführung über das Kriegsgebiet hinaus haben dürfen. Dazu gehörten Wasser, die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln, lebensnotwendige Energieversorgung sowie medizinische Versorgung, die niemals global eingeschränkt werden dürfen.

Die wahrscheinliche Annahme dieser beiden Ansätze – weltweite Vorsorgemassnahmen und globale Ausnahmen von einem Wirtschaftskrieg – ist bereits vielversprechend. Sowohl Russland als auch die NATO-Staaten arbeiten ernsthaft daran, die Gefahr von Welthunger durch die Schwarzmeer-Getreide-Initiative zu verringern. Es ist klar, dass beide Seiten humanitäre und politische Interessen bei der Begrenzung der weltweiten Auswirkungen ihres Wirtschaftskriegs im Blick haben. Gleichermassen traten die NATO-Staaten in Aktion, um die Folgewirkungen der Energieinflation auf ihre eigenen BürgerInnen mithilfe von Energiesubventionen zu verringern. Auch das ist wichtig, selbst wenn viele ihrer BürgerInnen die Ukraine unterstützen und bereit sind, bis zu einem gewissen Grad zu leiden, damit die Ukraine siegreich ist.

Die internationalen Menschenrechtsvorschriften enthalten bereits alles, was nötig ist, um rechtlich auf klaren Grenzen für die globale Wirtschaftskriegsführung zu bestehen, indem sie verlangen, dass diese nicht die Rechte der Menschen auf Leben, Nahrung, Gesundheit, Bildung und ihr Recht, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, sowie andere wirtschaftliche Rechte verletzt.

Drittens kann ein internationales Recht eine nützliche Rolle bei der Unterstreichung dieser beiden politischen Strategien spielen und ihnen eine feste Rechtsgrundlage verschaffen. Hier gibt es zwei Leitlinien – das Humanitäre Völkerrecht und die Internationalen Menschenrechtsnormen. Es wird vermutlich Jahre dauern, bis die Staaten sich auf ein neues Protokoll zu den Genfer Konventionen über die weltweite wirtschaftliche Kriegsführung geeinigt bzw. politisch Zeit und Geld investiert haben, um sich auf eine neue Leitlinie zu einigen, mit der die Bestimmungen des Humanitären Völkerrechts über die Gebiete der kriegsführenden Parteien hinaus ausgedehnt werden, um den globalen Auswirkungen der wirtschaftlichen Kriegsführung Rechnung zu tragen. Die Internationalen Menschenrechtsnormen haben hingegen bereits alles, was notwendig ist, um rechtlich auf klaren Grenzen für die globale wirtschaftliche Kriegsführung zu bestehen. Denn diese fordern, dass dabei die Rechte der Menschen auf Leben, Nahrung, Gesundheit, Bildung und ihr Recht, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, sowie andere wirtschaftliche Rechte nicht verletzt werden. Das ist der Ansatz, den UN-SonderberichterstatterInnen  dem Menschenrechtsrat vorgelegt haben.

Die globale wirtschaftliche Kriegsführung wird erneut Realität, wenn wir zu einer Welt streitsüchtiger Grossmächte zurückkehren. Sie bedarf einer Regulierung und es ist an der Zeit, dass wir die Lektionen aus ihrem Einsatz im Ukraine-Krieg lernen. Diese Erkenntnisse und eine neue Politikgestaltung sind dringend notwendig, denn sollte es beim nächsten “grossen” Krieg zu einer Konfrontation zwischen China und den USA kommen, könnte eine globale wirtschaftliche Kriegsführung katastrophal werden.


Über den Autor

Dr. Hugo Slim ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institute of Ethics, Law and Armed Conflict an der Blavatnik School of Government der University of Oxford. Sein neues Buch heisst Solferino 21: Warfare, Civilians and Humanitarians in the 21st Century.


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