GPO 2024

Auf dem Weg zu einem neuen Multilateralismus: Was wir vom Globalen Flüchtlingsforum lernen können

Ein sektorübergreifender Ansatz und ein Minilateralismus sind Schlüsselmerkmale eines neuen Multilateralismus. Filippo Grandi unterstreicht, dass die Spendenzusagen des GRFs durch bedarfsgerechte Finanzierungshilfen und eine humane Sicht auf Vertreibung in die Tat umgesetzt werden können.

Geneva Policy Outlook
5. Februar 2024
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© UNHCR/Colin Delfosse

Filippo Grandi

Jedes Mal, wenn ich in den vergangenen Monaten versucht habe, die Herausforderungen zu umreißen, mit denen es vertriebene Menschen zu tun haben, ertappte ich mich dabei, wie ich einen ganzen Katalog an Konflikten und Katastrophen aufzählte. Doch jetzt ist ein neues Jahr angebrochen, und daher möchte ich einen positiveren Ton anschlagen und mich auf eine Woche im vergangenen Dezember besinnen, die mir zeigte, dass es eine Gemeinschaft von Menschen – man könnte sogar sagen: eine Bewegung – gibt, die sich für Frieden, Mitgefühl und Humanitarismus engagiert.

Das Globale Flüchtlingsforum (GFF)

Wie es UNO-Generalsekretär António Guterres so schön sagte, war das Globale Flüchtlingsforum 2023 (2023 Global Refugee Forum) „ein helles Aufleuchten in einem ansonsten dunklen und beunruhigenden Jahr”. Rund 4200 Teilnehmende aus 168 Nationen und über 425 Organisationen kamen zum Forum nach Genf, während Tausende weiterer Menschen über das Internet zusahen und teilnahmen. Auf der Suche nach Mitteln und Wegen, um Flüchtlinge mit Einfallsreichtum und Entschlossenheit zu schützen und zu unterstützen, kamen über 1600 Zusagen von Staaten, Unternehmen, NGOs, flüchtlingsgeführten Organisationen, Wohltätigkeitsorganisationen, Städten, Finanzinstitutionen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Universitäten, Glaubensgruppierungen und vielen anderen zusammen.

Zwar waren die Zahlen, welche in den Schlagzeilen auftauchten, finanzieller Art: $2,2 Mrd. zugesicherte Gelder, davon $250 Millionen aus der Privatwirtschaft. Doch viele andere Spendenzusagen, die vielleicht nicht mit einem einfach zu berechnenden „Preisschild“ versehen waren, sind genauso wichtig: zum Beispiel eine Million Stunden kostenloser Rechtshilfe. Oder die Zielvorgabe, bis 2030 mindestens eine Million Flüchtlinge wieder mit ihren Familien zu vereinigen. Oder eine Zusage (die von Google, Meta und anderen tonangebenden Techkonzernen unterstützt wird) zur Bekämpfung von Falschinformationen und Hassrede. Oder eine Verpflichtung zu nachhaltigen, klimaresilienten menschlichen Siedlungen. Es gab noch viele weitere.

Eine Delegierte nannte das Ganze die Ausprägung „eines neuen Multilateralismus“, was den Geist des GFF und wie es zu den Spendenzusagen kam, ganz gut beschreibt: indem man grundverschiedene Instanzen dazu anregt, sich auf der Suche nach Synergien und Kooperation bei Themen wie Bildung, Beschäftigung, Kinderrechten, Wohnungsbau und Wohnstätten oder Sport zusammenzuschließen. Aber es war auch jede Menge „Minilateralismus“ erkennbar: in der fortlaufenden Arbeit regionaler Gremien, wie den Unterstützerplattformen, die humanitäre und entwicklungspolitische Bemühungen in verschiedenen Vertreibungssituationen koordinieren, oder bei der Bekräftigung der Flüchtlingserklärung von Cartagena 40 Jahre nach deren Einführung.

Auch waren wir in der Lage, bahnbrechende Initiativen einzuschätzen und auszuhandeln, wie Kenias Shirika-Plan, der zum Ziel hat, aus den riesigen Flüchtlingslagern Kakuma und Dadaab mit Unterstützung von Geberländern, internationalen Finanzinstitutionen und der Privatwirtschaft in den nächsten Jahren integrierte Siedlungen zu machen. Es handelt sich hier um einen zukunftsweisenden Ansatz eines Landes, das schon seit Jahrzehnten ein großzügiger Gastgeber für Flüchtlinge ist.

Im Tschad arbeiten das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und die Weltbank derweil daran, den Flüchtlingshaushalten und Gastgebergemeinden mittels Notfallgeldtransfers und durch die Förderung des Zugangs zu Bildung und Gesundheitsdiensten wirtschaftlich unter die Arme zu greifen – das ist nur ein Beispiel für die Rolle, die internationale und regionale Finanzinstitutionen in Vertreibungssituationen spielen können.

Versprechen in die Tat umsetzen

Alles schön und gut, könnte man sagen. Aber kommen wir jetzt zum Katalog der schlechten Nachrichten. Allein in der Woche, in der das Forum stattfand, wurden Dutzende von Zivilpersonen im Gaza-Streifen getötet und viele mehr vertrieben. Die Kämpfe in Myanmar und im Sudan zwangen weitere Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat, zusätzlich zu den Hunderttausenden – im Falle des Sudans sogar über sieben Millionen – welche dies bereits in den vergangenen Monaten getan haben.

Wie können diese Zusagen, Beiträge und Maßnahmen in einer Welt voller Krieg und Elend etwas bewirken?

Die Aufgabe, die meiner Meinung nach 2024 und in den darauffolgenden Jahren vor uns liegt, besteht darin, die humanitäre Bewegung, die sich im Rahmen des GFF herauskristallisiert hat, mit den Maßnahmen und der finanziellen Unterstützung zusammenzubringen, die ihr ein Gedeihen ermöglichen können. Wir haben die Kraft und die Größe dieser Gemeinschaft unter Beweis gestellt; jetzt brauchen wir die Menschen in Machtpositionen, damit diese als WegbereiterInnen des Humanitarismus in Aktion treten.

An erster Stelle steht naheliegenderweise das Thema der Finanzierung. Humanitäre Hilfsorganisationen und NGOs stehen vor einschneidenden Finanzierungsdefiziten: Trotz der turbulenten Ereignisse im Jahr 2023 konnte das UNHCR am Ende des Jahres nur die Hälfte seines Haushaltsbedarfs decken. Anderen Einrichtungen geht es ähnlich schlecht: Laut dem Global Humanitarian Overview (die Einschätzung des humanitären Hilfebedarfs durch die UNO) vom letzten Jahr erhielten bis Ende November nur 35 Prozent finanzielle Unterstützung. In diesem Jahr werden nach Schätzungen der UNO rund 300 Millionen Menschen aufgrund von Konflikten, Klimanotständen und anderen Faktoren humanitären Beistand und Schutz benötigen. Damit alle, die auf dem GFF Zusagen gemacht haben, diese auch einhalten können, müssen sie unterstützt werden, damit sie ihre verschiedenen Pläne in die Tat umsetzen und erweitern können.

Zweitens müssen wir in den vom Ausbruch eines Katastrophenfalls betroffenen Bevölkerungsgruppen viel mehr tun, um Resilienz aufzubauen – das wird auch als „Notfall-Aufbauhilfe“ bezeichnet. Beim UNHCR weisen wir bis zum Abwinken darauf hin, dass die Kosten für die Beherbergung von Flüchtlingen überproportional den Entwicklungsländern und den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt zufallen. Wenn nicht in die Vertriebenen und jene Länder investiert wird, die sie beherbergen, erhöht sich die Anfälligkeit dieser Regionen in einem solchen Maße, dass die Gefahr von Konflikten und Instabilität steigt.

Drittens hoffe ich, dass 2024 das Jahr sein wird, in dem wohlhabendere und besser ausgestattete Länder eine liberalere, gesamtheitlichere – und ja, humanere – Ansicht von vertriebenen Menschen haben werden. Es ist bei PolitikerInnen in wohlhabenden Ländern stark in Mode, Flüchtlinge und Migrierende als Bedrohung darzustellen, die es abzuwenden gilt, und die Optionen, die sie dafür vorlegen, konzentrieren sich fast ausschließlich auf Barrieren und Abschreckung. Es wäre weit besser, wenn sie strategisch denken und nach Möglichkeiten suchen würden, wie sie Flüchtlinge und Migrierende, die sich auf der Suche nach Sicherheit und Chancen oft auf komplexen Wegen und gefährlichen Routen bewegen, unterstützen und einbinden können.

Hin zu einer gesamtheitlichen und humanen Sicht der Vertreibung

Angefangen bei der Bekämpfung der Fluchtursachen über die Aufstockung von Ressourcen für Gastgeber- und Transitländer bis hin zu einem besseren Angebot an Umsiedlungs- oder Beschäftigungsmöglichkeiten können und müssen wir uns mit Flüchtlingen und Migrierenden an mehreren Punkten entlang der von ihnen begangenen, oft lebensgefährlichen Routen befassen. Dieser Ansatz des „gesamten Strecke” eignet sich vielleicht nicht für prägnante Zitate und erfordert Geduld und Engagement. Doch nur ein umfassender, breitgefächerter Ansatz wird Resultate liefern. Einfach nur Barrieren aufzubauen, Kontrollen zu verschärfen und die verzweifelten Menschen zurückzuschieben ist keine Lösung.

Angefangen bei der Bekämpfung der Fluchtursachen über die Aufstockung von Ressourcen für Gastgeber- und Transitländer bis hin zu einem besseren Angebot an Umsiedlungs- oder Beschäftigungsmöglichkeiten können und müssen wir uns mit Flüchtlingen und Migrierenden an mehreren Punkten entlang der von ihnen begangenen, oft lebensgefährlichen Routen befassen.

In diesem Jahr finden in über 50 Ländern, welche die Hälfte der Weltbevölkerung repräsentieren, wichtige Wahlen statt. In den letzten Jahren wurden politische Kampagnen immer kontroverser, und zu den am kontroversesten diskutierten Themen gehören Asyl und Migration. Auf breiter Ebene haben Nativismus und ethno-sektiererische Identitätspolitik einen Keil zwischen Gemeinschaften getrieben, wo keiner sein müsste. Für 2024 erhoffe ich mir ein positiveres und wahrheitsgetreues Narrativ rund um Vertreibung, Asyl und Migration, das auf Fakten und der Anerkennung internationaler Gesetze basiert und den Wählenden rational und besonnen vorgelegt wird. Außerdem fordere ich PolitikerInnen und politische EntscheidungsträgerInnen auf, das Potential des „neuen Multilateralismus“ zu erkennen, der vom GFF vorgelebt wird, und als dessen VerfechterInnen und SponsorInnen aktiv zu werden.

Es ist möglich, das Blatt zu wenden. Ich hoffe, dass dieses Jahr das Jahr ist, in dem wir damit beginnen, es in die Tat umzusetzen.


Über den Autor

Filippo Grandi ist UN-Hochkommissar für Flüchtlinge.

Disclaimer
Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Meinungen sind die der Autoren. Sie geben nicht vor, die Meinungen oder Ansichten des Geneva Policy Outlook oder seiner Partnerorganisationen wiederzugeben.