GPO 2024

BRICS: Auf dem Weg in eine neue Ära der Global Governance

Der BRICS Gipfel 2023 in Johannesburg könnte eine neue Grundlage für Koalitionsdipomatie legen. Jamil Chade beschreibt die Auswirkungen des Gipfels auf die Reformen des UN-Sicherheitsrats, das Überwinden der Vorherrschaft des US-Dollars und neue Verhandlungsallianzen zu wichtigen Fragen der Global Governance.

Geneva Policy Outlook
5. Februar 2024
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Foto von CHUTTERSNAP / Unsplash

Jamil Chade

Am 22. August 2023 hielten die Präsidenten und obersten DiplomatInnen der fünf Länder der BRICS-Gruppe – Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika – in Johannesburg eine sogenannte „Klausur“ ab, die das Potential hatte, den Kurs der regelbasierten politischen Ordnung jenseits des Nationalstaats – auf Englisch kurz «global governance» - in eine neue Richtung zu stossen. Xi Jinping, Narendra Modi, Luiz Inácio Lula da Silva, Cyril Ramaphosa und Wladimir Putin (letzterer nahm per Videokonferenz teil) hatten das Gefühl, dass ihr Treffen von historischer Bedeutung sei. Der Leitfaden war eindeutig: Die Welt hatte sich verändert, und der „Globale Süden“ war jetzt eine Realität. Was sollte aus der BRICS Gruppe in Zukunft werden? Welche und wie viele neue Mitglieder sollten, wenn überhaupt, zugelassen werden?

Die Welt hatte sich verändert, und der „Globale Süden“ war jetzt eine Realität. Was sollte aus der BRICS Gruppe in Zukunft werden?

BRICS-Erweiterung 

2010 nahm der Block Südafrika als fünftes Mitglied auf. Aber dieses Mal in 2023 wussten die Delegationen, dass diese Expansion keine einfache Erweiterung um ein neues Mitglied bedeutete, sondern dass sie eine grosse Anzahl an Ländern in die Gruppierung bringen würde, was sich auf die strategische Bedeutung und die operative Logik des Blocks auswirken würde. Der jüngste Austritt Argentiniens aus der BRICS Erweiterungsgruppe zeigt auch, wie Ideologien die Präferenzen eines Landes für oder gegen die BRICS beeinflussen können.  

Vorangetrieben wurde die Debatte über eine Erweiterung der BRICS hauptsächlich von China, vor allem im Nachgang zu Covid-19. Allerdings standen Indien und Brasilien nicht uneingeschränkt hinter der Idee, denn sie fürchteten, das Bündnis würde dadurch zu einem Instrument der chinesischen Aussenpolitik werden und ihren Einfluss schwächen. Doch seit Beginn des Jahres 2023 hatte sich der Druck Pekings zur Aufnahme neuer Mitglieder auf die anderen BRICS-Partner deutlich erhöht.  

Die „Klausur“ galt als Schlüsselmoment zur Lösung der Differenzen. Wenn ein regionaler Ausgleich zwischen den neuen Mitgliedern geschaffen werden könnte, wäre Brasilien bereit, den fünf von China vorgeschlagenen Namen zuzustimmen. Der Gedanke war, Mitglieder aufzunehmen, die bereits den G20 angehörten, wie etwa Argentinien, Ägypten, Saudi-Arabien und Indonesien. Jakarta zog seine Kandidatur jedoch zurück und das gab den Platz frei für den Iran. Um eine geopolitische Ausgewogenheit zu gewährleisten, wurden die Vereinigten Arabischen Emirate eingeladen, und auch Äthiopien erhielt eine Einladung, damit der afrikanische Kontinent stärker vertreten war. 

Doch für Südafrika, Indien und Brasilien musste die Übereinkunft auch eine Verpflichtung zur Erweiterung des UN-Sicherheitsrats beinhalten. Bislang befürwortete Peking diese Reform nicht, da es den Beitritt seiner beiden grössten Konkurrenten in der Region zu vereiteln suchte: Indien und Japan. Um nun eine BRICS Allianz zu bekommen, die den Zielsetzungen Chinas entsprach, stimmte Peking zu, in die Abschlusserklärung aufzunehmen, dass es die „rechtmässigen Ansprüche“ Südafrikas, Indiens und Brasiliens auf einen permanenten Sitz im UN-Sicherheitsrat anerkennt. Mit diesen Worten hatte China den ersten Schritt zur Anerkennung des Beitritts neuer Mitglieder in das höchste Gremium der UN getan. „Der Riese hat sich bewegt“, freute sich ein Diplomat am Rande des BRICS Gipfels in Johannesburg. Indem die Erweiterung der BRICS an die Erweiterung des UN-Sicherheitsrates geknüpft wurde, erreichten die Verhandlungsführer von Indien, Südafrika und Brasilien einen grossen diplomatischen Durchbruch. Es war die erste Salve im kommenden Kampf um die Vergrösserung des UN-Sicherheitsrates. 

Die Vorherrschaft des US-Dollars überwinden

Die BRICS Erweiterung stellte jedoch nur ein Element bei der Konsolidierung des Bündnisses als Hauptkonkurrenz zur G7 dar. Ein weiteres Element bestand in der Koalitionsbildung zur Umgestaltung des weltweiten Finanzsystems. Während des Gipfels beschlossen die Regierungen, eine Studie in Auftrag zu geben, mit der eine Referenzeinheit zwischen den fünf Währungen des Blocks festgelegt werden sollte. Ziel war es, den politischen Spielraum zur Schaffung einer Währung auszuloten, welche Handel ohne den US-Dollar ermöglicht. Dies würde künftig die Abhängigkeit vom US-Dollar verringern und die Auswirkungen einschränken, sollte dieser als Waffe benutzt werden. Laut dem Brasilianer Paulo Nogueira Batista Jr., einem führenden Wirtschaftswissenschaftler Brasiliens, wurde der Dollar häufig als Waffe verwendet, mit der das „… westliche Finanzsystem feindliche Länder ins Visier nahm“. Russland ist ein typisches Beispiel. Die USA und ihre europäischen Verbündeten haben „ca. die Hälfte der internationalen Nettovermögenswerte Russlands“ bzw. 300 Milliarden Dollar eingefroren, merkte er an. „Ganz offensichtlich verliert die derzeitige internationale Währungsordnung durch das Ausnutzen und den Missbrauch der privilegierten Stellung des Dollars an Legitimität. Dadurch wird das Vertrauen in den Dollar zerrüttet“, argumentierte er.

Als Fahrplan zur Schaffung einer gemeinsamen BRICS-Währung erläuterte der brasilianische Wirtschaftswissenschaftler, dass diese zunächst aus einem Korb mit fünf Währungen bestehen würde. Die Gewichtung der fünf Währungen würde in etwa die relative Gewichtung der fünf BRICS-Ökonomien widerspiegeln. „Ziel wäre nicht, eine einzige Währung zu schaffen, welche die fünf Landeswährungen ersetzen soll, sondern beim Handel zwischen den Mitgliedern des Blocks den Dollar zu umgehen“, stellte er klar.  

Bedeutung für das internationale Genf

Die BRICS Staaten können nicht länger auf die Schaffung einer Global Governance warten, die enger an ihre Interessen angelehnt ist; und sie brauchen sicher nicht die Erlaubnis des Westens, um voranzukommen.

Wenn der BRICS-Gipfel von Johannesburg eines gezeigt hat, dann, dass die BRICS-Staaten nicht länger auf die Schaffung einer Global Governance warten können, die enger an ihre Interessen angelehnt ist; und sie brauchen sicher nicht die Erlaubnis des Westens, um voranzukommen. Die Aussicht für 2024 und darüber hinaus ist, dass ein erweitertes BRICS Bündnis auch bei politischen Diskussionen in verschiedenen UN-Foren eine Koalition bilden wird.  

Dies könnte sich erheblich auf verschiedene, in Genf behandelte Themenbereiche auswirken, zum Beispiel auf Bündnisse, die im Menschenrechtsrat oder der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) gebildet werden, sowie bei einer gemeinsamen Position in den Verhandlungen zur Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCCC) und dem Pariser Abkommen.

Bei der Weltgesundheit wird das Bündnis beispielsweise darauf bestehen, dass in den Hauptverhandlungen der Weltgesundheitsorganisation verstärkt auf Technologietransfer und Zugang zu Medikamenten gedrängt wird. Das zur Debatte stehende Pandemie-Abkommen mit einer Frist bis 2024 wird dabei als Probelauf angesehen. De facto haben die BRICS-GesundheitsministerInnen die Weltgesundheitsversammlung in den vergangenen paar Jahren auch dafür genutzt, um sich zu treffen und Positionen miteinander abzustimmen. Jetzt wird erwartet, dass sie sich Gehör verschaffen und in einigen dieser Debatten zu Schlüsselfiguren werden.  

Beim Handel wird von den BRICS-Staaten ebenfalls ein Reformvorstoss erwartet. Auf ihrem letzten Gipfel bekräftigte das Bündnis erneut „die Unterstützung eines im Kern offenen, transparenten, fairen, vorhersagbaren, integrativen, gleichberechtigten, nichtdiskriminierenden und auf Regeln beruhenden multilateralen Handelssystems mit der Welthandelsorganisation (WTO)“. Sie fügten hinzu „Wir verpflichten uns dazu, uns konstruktiv für die Durchführung der notwendigen WTO-Reform einzusetzen (…) und fordern unverzüglich die Wiederherstellung eines vollständigen und gut funktionierenden, zweistufigen WTO-Streitschlichtungssystems, auf das alle Mitglieder bis 2024 zugreifen können, sowie die Wahl neuer Mitglieder ins Berufungsgremium“.

Die Abrüstungskonferenz stellt einen weiteren Bereich dar, in dem die Auswirkungen der neuen BRICS spürbar werden könnten. Wie die Gruppe vergangenen August erklärte, stehen auch Abkommen wie die Konvention über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer Waffen und Toxinwaffen sowie über die Vernichtung derselben (BTWC) und das Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über deren Vernichtung (CWC) in ihrem Fokus. 

„Wir bekräftigen erneut unsere Unterstützung zur Sicherung der langfristigen Nachhaltigkeit von Weltraumaktivitäten sowie der Verhinderung eines Wettrüstens im Weltraum (PAROS) und der Nutzung des Weltraums als Waffe, einschliesslich durch Verhandlungen zur Einführung entsprechender rechtsverbindlicher multilateraler Instrumente“, erklärte der BRICS Gipfel.  

Sind Genf und die dort ansässigen Institutionen bereit, eine grössere Vielfalt an Positionen zuzulassen, welche die ,nichtwestliche‘ Welt besser abbildet?

Angesichts dieser Entwicklungen muss sich Genf als globaler Knotenpunkt einige ernsthafte Fragen stellen. Sind die in Genf ansässigen internationalen Institutionen bereit, mit einer größeren Vielfalt an Positionen umzugehen, die aus einem nicht westlichen Weltbild herauswachsen? Kann Genf die Angleichung und Einhaltung einer breiteren Palette universeller Grundsätze, wie der UN-Charta, der Genfer Konvention und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie der Nachhaltigkeitsziele vermitteln oder erleichtern? Wie sollte Genf mit der neuen einheitlichen Ausprägung von BRICS – vornehmlich der BRICS Bank – zusammenarbeiten, um Fortschritte bei der Bewältigung global Herausforderungen zu erzielen? Antworten auf diese Fragen zu finden, wird für Genf von grosser Bedeutung sein, wenn es in einer Ära, die mit grosser Wahrscheinlichkeit von den Interessen östlicher und südlicher Länder geprägt sein wird, als globaler Knotenpunkt relevant bleiben möchte.


Über den Autor

Jamil Chade ist ein brasilianischer Journalist, Berichterstatter und Autor, der seit zwei Jahrzehnten als Korrespondent in Europa arbeitet und sein Büro am UN-Hauptsitz in Genf hat und für seine Arbeit mit unterschiedlichen Preisen ausgezeichnet wurde.

Disclaimer
Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Meinungen sind die der Autoren. Sie geben nicht vor, die Meinungen oder Ansichten des Geneva Policy Outlook oder seiner Partnerorganisationen wiederzugeben.