GPO 2024

Dem Trade-off zu Geschlechterfragen in multilateralen Verhandlungen entgegenwirken

Die Menschenrechte von Frauen, Mädchen und geschlechtlichen Minderheiten dürfen nicht zum Spielball geopolitischer Interessen werden. Clair Somerville fordert neues Leadership, um die Instrumentalisierung der Geschlechterfrage zur Unterwanderung des konsensorientierten Multilateralismus zu verhindern.

Geneva Policy Outlook
5. Februar 2024
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Foto von Gayatri Malhotra / Unsplash

Claire Somerville

Geschlechtsspezifische Benachteiligung und Ungleichbehandlung bestehen rund um die Welt fort. Trotz aller Bemühungen auf politischer, strategischer und sachlicher Ebene hat kein Land bisher eine wirkliche Gleichstellung der Geschlechter erreicht. Jüngsten Schätzungen zufolge hat eine von drei Frauen auf der Welt bereits körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt und verdient zwischen 7 und 20 Prozent weniger als Männer. Zudem sterben jeden Tag 800 Frauen an vermeidbaren Ursachen infolge von Schwangerschaft und Geburt, und zwei Drittel der AnalphabetInnen auf der Welt sind Frauen. 

Dokumentierte Bestrebungen um die Rechte der Frauen reichen weit in die Geschichte zurück und umfassen beispielsweise Mary Wollstonecrafts Abhandlung „Verteidigung der Rechte der Frau“ aus dem Jahr 1792, die Seneca Falls Convention zu Frauenrechten im Jahr 1848 und auf internationaler Ebene den ersten Internationalen Frauentag von 1911, der darauf abzielte, Forderungen nach Frauenwahlrecht und Arbeitsrechten zu stärken. Diese Beispiele sind zwar allesamt nuanciert und kontextabhängig, zeigen aber dennoch, dass es Maßnahmen gab, mit denen einige, wenn auch nicht alle Rechte zur Gleichstellung aller Menschen angestrebt wurden. Die Kodifizierung der Rechte aller Frauen und Mädchen war wohl ein Grundpfeiler der normenbasierten Nachkriegsordnung. Diese wurde in Artikel 7 der Satzung des Völkerbundes von 1919 verankert, in nachfolgenden Konsensvereinbarungen vertieft und mit der Einrichtung der Frauenrechtskommission (FRK) 1946 institutionalisiert. Internationale Bemühungen auf politischer Ebene wie die ECOSOC Gender Mainstreaming Resolution (A/52/3) (Resolution zur Verwirklichung der Gleichstellung der Geschlechter unter Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Lebensbedingungen und Interessen) von 1997 versuchten, noch einen Schritt weiterzugehen, indem sie „die Anliegen und Erfahrungen von Frauen wie Männern“ zum Bestandteil des Ziels der Geschlechtergleichstellung machten. 

In feministischen Kritiken werden regelmäßig die Herausforderungen hervorgehoben und die Problematik einiger dieser Vorgehensweisen aufgezeigt. Die Tatsache, dass Frauen beispielsweise „einbezogen“ oder „hinzugenommen“ werden müssen, spricht Bände über das fest verwurzelte Patriarchat, aus dem solche Maßnahmen erwachsen sind. Sieht man einmal vom wissenschaftlich-kritischen Denken ab, so war man bisher aber zumindest einigermaßen zuversichtlich, dass der Rahmen der Menschenrechte, die auf Normen beruhende Weltordnung und die Prozesse und Strategien der internationalen Kontrolle und Lenkung die Gleichstellung der Geschlechter mit ziemlicher Sicherheit progressiv voranbrächten. Doch im Oktober 2022 unterzeichneten 33 Länder die Genfer Konsenserklärung, die sich einer längst veralteten Sprache aus dem UN-System bedient und die Gesundheit von Frauen und insbesondere Schwangerschaftsabbrüche als Aufhänger verwendet, um Widerstand gegen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) aufzubauen. Bei derartigen Versuchen, Geschlechterthemen sowie die Rechte von Frauen und Mädchen sowie Menschen aller sexuellen Orientierungen und geschlechtlicher Identitäten (SOGI) auszunutzen, sollten wir alle hellhörig werden und die geschlechterbezogene Politik der internationalen Zusammenarbeit aufmerksam verfolgen.  

Geopolitischer Kontext und Genfer Verhandlungen 

Üblicherweise polarisieren sich die Reaktionen auf die Ungleichheit der Geschlechter, die Rechte aller Frauen und Mädchen und ferner auf das Recht, keine SOGI-basierte Diskriminierung zu erfahren, entlang geopolitischer Linien. Darin spiegeln sich die ganzen globalen politischen Spaltungen durch den autoritären Populismus wider, der das auf Regeln beruhende internationale System gezielt herausfordert. Mobilmachungen, die danach streben, multilaterale Foren und Global Governance-Prozesse zu unterminieren und zu zerrütten, können häufig in Form von gleichberechtigungsfeindlichen bzw. menschenrechtsfeindlichen Bewegungen auftreten.  

Die Reaktionen auf die Ungleichheit der Geschlechter, die Rechte aller Frauen und Mädchen und ferner auf das Recht, keine SOGI-basierte Diskriminierung zu erfahren, polarisieren üblicherweise entlang geopolitischer Linien.

In Zentren multilateraler Kontrolle und Lenkung, wie etwa in Genf, können diese Bündnisse in Verhandlungsrunden sehr aktiv werden, wobei Geschlechterthemen zuweilen als Aufhänger für einen länderübergreifenden koordinierten Versuch zur Zersetzung normativer Governance-Prozesse genutzt werden.  

Zwei Beispiele veranschaulichen, wie dies ablaufen kann. Das erste Beispiel ist die Abschlusssitzung der 75. Weltgesundheitsversammlung (WHA) 2022, die durch einen Konsensbruch schlagartig aus der Bahn geworfen und aufgehalten wurde. Dadurch wurde eine Abstimmung über die Terminologie bei einem geschlechtsbezogenen Thema erzwungen (Rechte auf sexuelle Gesundheit und Erziehung in einem Fachdokument). Beim zweiten Beispiel handelt es sich um die 111. Sitzung auf der Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) im Juni 2023, die sich bei der Bewilligung des Haushaltsplans für 2024-25 einem noch nie dagewesenen Konsensbruch gegenübersah und gezwungen war, über ein geschlechtsbezogenes Thema abzustimmen (Diskriminierung aller Arbeiterinnen und Arbeiter aller sexueller Orientierungen und geschlechtlicher Identitäten am Arbeitsplatz).

Warum spielt das eine Rolle?

Im geschichtlichen Abriss zu Beginn dieses Artikels deutete die Kodifizierung der Frauenrechte im internationalen System des 20. Jahrhunderts auf einen fortschrittlichen Weg hin, der zum eingangs erklärten Ziel der Geschlechtergleichstellung führt. Doch in den oben erwähnten Beispielen wird über geschlechtsbezogene Themen verhandelt, wobei lange Zeit normgebende Rahmenordnungen über die Gleichstellung der Geschlechter bei der Gesundheit, am Arbeitsplatz und zu Hause zur Abstimmung gestellt werden. Den Abschluss der WHA durch Verhandlungen über ein Fachdokument (das normalerweise nicht den Verhandlungsrunden der Mitgliedsstaaten unterliegt, wie vielfach betont wurde) hinauszuzögern, untergräbt das Engagement der vergangenen Jahrzehnte, bei dem es darum ging, die Gleichstellung der Geschlechter in den Gesetzen und Prozessen des multilateralen Systems der Global Governance zu verankern. Es stellt sich die Frage, welche Botschaft das den Frauen, Mädchen und allen geschlechtlichen Minderheiten auf der ganzen Welt und auch hier in der Schweiz vermittelt, wenn das internationale, auf Regeln basierende System bereit ist, über deren Rechte zu verhandeln und abzustimmen.  

Abgesehen von der vermittelten Botschaft lassen die Aufhebung des Konsenses sowie die Bestimmungen zur staatlichen Souveränität es verfahrenstechnisch zu, dass auf nationaler Ebene nicht mehr über geschlechtsbezogene Ungleichbehandlung gesprochen wird. Souveränitätsklauseln bei Geschlechterfragen verursachen geschlechtsspezifische Kollateralschäden infolge von koordinierten politischen Strategien, mit denen das auf Regeln beruhende System der Menschenrechte und des Multilateralismus zerrüttet wird. Der Kollateralschaden bei einer solchen Anwendung auf die Rechte von Frauen, Mädchen und geschlechtlichen Minderheiten wirkt sich nachteilig auf die zivilgesellschaftliche Basis aus, wo Aktivitäten untergraben und finanziell nicht weiter unterstützt werden. Infolgedessen wirkt sich das, was bei maßgebenden Prozessen wie der Haushaltsgenehmigung oder den Diskussionen über fachliche Gesundheitsleitfäden im internationalen Genf geschieht, auf die nationalen und lokalen Ebenen aus, wo die Souveränitätsklauseln den Zugang zu einem vollen und umfassenden allgemeinen Gesundheitsschutz und zur Gleichstellung der Geschlechter gemäß der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte einschränken.   

Weiteres Vorgehen

Geschlechterfragen können als Waffe gegen die multilaterale Zusammenarbeit eingesetzt werden, welche die Regeln des Rechts, der Menschenrechte, des Gesundheitswesens, der Arbeit, des Handels und des humanitären Engagements im internationalen Genf untermauert.

Als Gastgeberstadt, erst für den Völkerbund und später für die daraus hervorgegangenen Vereinten Nationen, als Sitz von über 40 internationalen Organisationen und Schauplatz multilateraler Governance-Prozesse und Verhandlungen ist Führungsverantwortung im internationalen Genf von entscheidender Bedeutung. Wie weiter oben erörtert, können geschlechtsbezogene Themen zu einem leichten diplomatischen Ziel und zum Aufhänger für die Aufhebung des konsensbasierten Multilateralismus werden. Als WissenschaftlerInnen, AktivistInnen, UN-Mitgliedsstaaten, zwischenstaatliche Organisationen (IOs) und internationale Nichtregierungsorganisationen (INGOs) müssen wir alle ein wachsames Auge auf die Vereinnahmung geschlechtsspezifischer Themen zu politischen Zwecken haben. Geschlechterfragen können als Waffe gegen die multilaterale Zusammenarbeit eingesetzt werden, welche die Regeln des Rechts, der Menschenrechte, des Gesundheitswesens, der Arbeit, des Handels und des humanitären Engagements im internationalen Genf untermauert. Die Menschenrechte von Frauen, Mädchen und geschlechtlichen Minderheiten dürfen im geopolitischen Spiel niemals zum transaktionellen Kompromiss für unsere globale Zusammenarbeit werden.  


Über den Autor

Claire Somerville ist Dozentin für Internationale Beziehungen und geschäftsführende Direktorin des Gender Centre am Geneva Graduate Institute.  

Disclaimer
Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Meinungen sind die der Autoren. Sie geben nicht vor, die Meinungen oder Ansichten des Geneva Policy Outlook oder seiner Partnerorganisationen wiederzugeben.