GPO 2024

Den Niedergang der Diplomatie umkehren

Diplomatie als Instrument zur Behandlung der gravierendsten Probleme auf der Welt ist im Niedergang begriffen. David Harland hebt hervor, dass die Welt diesen Trend umkehren muss, indem eine Interessenhierarchie akzeptiert, Kompromiss und Pragmatik wiederentdeckt und eine hybride Diplomatie praktiziert wird.

Geneva Policy Outlook
5. Februar 2024
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© HD Centre

David Harland

Die Diplomatie als Mittel erster Wahl

Die Sieger des Zweiten Weltkriegs hatten beschlossen, dass Diplomatie die primäre Methode sein sollte, um weltweit für Frieden und Sicherheit zu sorgen: Streitigkeiten sollten durch friedliche Mittel beigelegt werden, und es sollte keine Anwendung oder Androhung von Gewalt gegenüber der territorialen Unversehrtheit oder der politischen Unabhängigkeit eines Staates geben.

Und das hat in bemerkenswertem Maße funktioniert. Die in früheren Zeiten so gängigen Kriege zwischen Staaten verschwanden weitestgehend.  

DiplomatInnen fanden Mittel und Wege, um das Risiko eines Atomkriegs gering zu halten. Sie fanden tragfähige Kompromisse in Bezug auf den Status Finnlands und später Österreichs, die unter den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs einen Krieg hätten auslösen können. Stück für Stück bauten sie die Struktur der Nichtlieferung von Atomwaffen und der Rüstungskontrolle auf. Der Atomwaffensperrvertrag (NVV) schränkte die Verbreitung von Atomwaffen ein, und die Vereinbarungen, welche mit den Gesprächen zur Begrenzung strategischer Rüstung (SALT I) begannen, schufen das relative Gleichgewicht und die Rechtssicherheit, die nötig waren, um den Umgang der Staaten mit Nuklearwaffen zu beschränken. 

Erfolgreiche Diplomatie beschränkte sich dabei nicht nur auf die USA und die Sowjetunion oder auf die Vermeidung weltweiter Gefährdungen. Die UN-Charta erwies sich als guter Rahmen für die Bewältigung der Dekolonialisierung von den 1940er bis in die 1960er Jahre, in deren Zuge Milliarden Menschen zu BürgerInnen unabhängiger Staaten wurden. Und Ende der 1980er und 1990er konnte der UN-Sicherheitsrat mit Unterstützung durch UnterhändlerInnen, WahlbeobachterInnen und Friedenssicherungstruppen vor Ort den meisten dieser Länder zu einem gewissen Mass an Stabilität verhelfen: Kambodscha, El Salvador, Guatemala, Nicaragua, Liberia, Sierra Leone und viele mehr. 

Keiner dieser Einsätze war einfach und oftmals auch sehr frustrierend. Und dennoch hatte man das Gefühl, dass Diplomatie ein ernstzunehmendes Mittel war, das dazu beitragen konnte, die größten Bedrohungen für das Überleben der Menschheit unter Kontrolle zu halten. Diplomatie war ein Mittel erster Wahl. Und dann, vor etwas mehr als einem Jahrzehnt, war sie es auf einmal nicht mehr.  

Niedergang der Diplomatie

Ungefähr seit 2010 hat sich der Sicherheitsrat kaum noch auf etwas Nennenswertes geeinigt. Der Rat trug dazu bei, dass 2011 in Libyen das Chaos ausbrach, war dann aber nicht in der Lage, viel dazu beizusteuern, dass sich die Lage wieder normalisierte. Von Syrien bis Jemen wurde der Rat blockiert, und wenn er sich zu Wort meldete, waren seine Resolutionen so weit von der Realität entfernt, dass sie neue Hindernisse für den Frieden schufen. Zu den jüngsten Bedrohungen des internationalen Friedens und der weltweiten Sicherheit – dem russischen Einmarsch in die Ukraine und der sich anbahnenden Gefahr eines Konflikts zwischen China und den USA über Taiwan – hat der Rat nichts zu sagen.

Dafür gibt es strukturell bedingte Gründe, wie etwa das diesbezügliche Schwinden der US-Macht und die zunehmenden Herausforderungen, vor die ihn seine WidersacherInnen stellen. Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 wird als Wendepunkt betrachtet, der den Westen darauf aufmerksam machte, dass das „Ende der Geschichte“ vorüber war.  

Es besteht die Ansicht, dass das derzeitige Fehlen diplomatischer Lösungen für internationale Sicherheitsprobleme nicht so schlimm sei. Dieser Sichtweise zufolge ist die Zeit der Diplomatie vorüber, genau wie das Schreiben von Hand oder das Fahren in Pferdekutschen. Sie stelle eine Form zwischenstaatlicher Beziehungen dar, die an ein bestimmtes internationales System angepasst war. So wie sich dieses System verändert habe, habe sich auch die Art und Weise der Interaktion innerhalb dieses Systems geändert.  

So hat zum Beispiel der Aufstieg grosser globaler Unternehmen naturgemäß zu Interaktionsformen geführt, die sich nicht so leicht in den Rahmen der zwischenstaatlichen Diplomatie zwängen lassen. Ein typisches Beispiel dafür ist Elon Musks Entscheidung über die Nutzung von Starlink in der Ukraine. 

Diese Ansicht ist falsch.  

Nicht nur gibt es keine neuen konkreten diplomatischen Aussagen zu dieser wachsenden Liste an Herausforderungen, sondern die DiplomatInnen demontieren auch noch aktiv die Instrumente, welche von früheren Generationen eingerichtet wurden.  

Die Liste weltweiter Probleme, die echter Lösungen bedürfen – wie etwa die Bedrohung der menschlichen Existenz – wächst. Es besteht wieder die Gefahr eines Atomkriegs, denn die Atommächte vergrößern oder modernisieren ihre Arsenale und optimieren ihre Liefersysteme. Weitere Risikofaktoren sind der Klimawandel, Pandemien und vielleicht auch hochentwickelte künstliche Intelligenz (KI).  

Nicht nur gibt es keine neuen konkreten diplomatischen Aussagen zu dieser wachsenden Liste an Herausforderungen, sondern die DiplomatInnen demontieren auch noch aktiv die Instrumente, welche von früheren Generationen eingerichtet wurden. Viele der wichtigen Rüstungskontrollinstrumente – der Mittelstrecken-Nuklearstreitkräfte-Vertrag (INF-Vertrag), die Verträge New START und Open Skies – wurden aufgegeben oder existieren nur noch auf dem Papier. Der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) ist der jüngste Dominostein, der gefallen ist. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die dazu gedacht war, einen einheitlichen Rahmen für die Diplomatie zu schaffen, mit der sich Sicherheitsrisiken innerhalb und außerhalb Europas kontrollieren ließen, ist nahezu tot.

Dieses Schwinden der Diplomatie macht sich vor allem in den westlichen Ländern bemerkbar. Zunehmend besteht die westliche Diplomatie darin, nicht mit Leuten zu reden, die man nicht mag – eine Art „zwischenstaatlicher Cancel Culture“. Dies mag mit Syrien, den Taliban oder Nordkorea funktionieren, doch dadurch wird es schier unmöglich, effizient mit Moskau oder Peking zu verhandeln.  

Außerdem wird die westliche Diplomatie, im Gegensatz zur Diplomatie in anderen Teilen der Welt, größtenteils von der Ansicht angetrieben, dass der Rest der Welt mehr wie der Westen sein sollte. Auch wenn sich die Werte selbst änderten, schien es 200 Jahre lang doch so, dass diese zivilisatorische Mission dank des sie untermauernden relativen Kräftegleichgewichts gelingen könnte. Doch wenn die westliche Welt heutzutage darauf besteht, dass andere Länder ihren demokratischen Normen oder ihrem Verständnis von Menschenrechten folgen sollen, leisten diese Länder oft Widerstand und können dann eigene Entscheidungen treffen. Die Tatsache, dass Iran und Saudi-Arabien in der Lage waren, unter chinesischer Schirmherrschaft zu einer Übereinkunft zu gelangen, ist ein Gradmesser dafür, in welchem Maße die westliche Diplomatie in weiten Teilen der Welt nicht länger erwünscht ist. Das Aufkommen von „der Westen gegen den Rest der Welt“ als ein Grundgerüst in den internationalen Beziehungen stellt ein vernichtendes Zeugnis für den Zustand der westlichen Diplomatie dar. 

Doch die Fäulnis, welche die Diplomatie untergräbt, beschränkt sich nicht nur auf den Westen. Viele der mächtigen, nichtwestlichen Länder zeigen ähnliche Symptomatiken. So praktiziert China häufig eine Diplomatie, die seinen eigenen Interessen zuwiderzulaufen scheint. Als aufstrebende Großmacht ist es vermutlich Chinas oberstes diplomatisches Gebot, Bedingungen zu schaffen, die dem weiteren Aufstieg des Landes förderlich sind, und die Herausbildung einer Länderkoalition zu verhindern, die diesen Aufstieg behindern könnte.  

Dennoch scheint es manchmal, als sei Chinas „Wolfskrieger“-Diplomatie bewusst darauf ausgerichtet, weite Landstriche der Welt in Angst zu versetzen und gegen sich aufzubringen: Indien, das mit China eine lange und ungeklärte Grenze gemein hat; Australien wegen der Unterstützung bei der Suche nach dem Ursprung von COVID-19; Kanada wegen seiner Rolle in einer Streitigkeit zwischen den USA und China; die Philippinen und Vietnam, weil sie die enormen Ansprüche Chinas im Südchinesischen Meer zurückdrängen; Japan und Südkorea aus verschiedenen Gründen.

Bei dieser diplomatischen Übung geht es nicht darum, gemeinsame Ziele auszumachen und bedächtig zu verfolgen.  

Umkehr des Niedergangs

Es gibt zwar keine Patentlösung, doch könnten wir damit beginnen, die staatliche Diplomatie wieder aufzubauen und an Alternativen zu arbeiten.

Was also kann getan werden, wenn die Gefahren wachsen und die Instrumente zur Bewältigung dieser Gefahren geschwächt sind? Es gibt zwar keine Patentlösung, doch könnten wir damit beginnen, die staatliche Diplomatie wieder aufzubauen und an Alternativen zu arbeiten.

Die Regierungen müssen daran erinnert werden, dass es eine Interessenhierarchie gibt, bei der das nationale Überleben an oberster Stelle steht. Damit verbundene Prioritäten, wie die Kontrollierung von Atomwaffen, das Verhindern von Amokläufen durch KIs, die Eindämmung des Klimawandels und die Prävention künftiger Pandemien sind direkt mit dem Überleben verknüpft und übertrumpfen deshalb andere lobenswerte Ziele wie die Ausweitung westlicher Werte auf nichtwestliche Länder. Vor allem die westlichen Regierungen müssen sich der Tatsache stellen, dass sie nicht mehr alles haben können. Es muss wieder Raum für vernünftige, vertrauliche Gespräche über die wichtigsten Themen geschaffen werden.  

Wir leben in einem Zeitalter wechselnder Konstellationen: Länder, die bei einem Thema kooperieren, können bei einem anderen konkurrieren und sich bei einem dritten im offenen Konflikt befinden.

Obwohl wir in einem Zeitalter intensiver Polarisierung leben, kann es bei einer effektiven Diplomatie dennoch nicht nur um das Beharren auf der eigenen Position und die lauthalse Verunglimpfung der GesprächspartnerInnen gehen. Damit Diplomatie Erfolg hat, muss sie auf den globalen Kontext zugeschnitten sein und Raum für Kompromisse lassen. Wir leben in einem Zeitalter wechselnder Konstellationen: Länder, die bei einem Thema kooperieren, können bei einem anderen konkurrieren und sich bei einem dritten im offenen Konflikt befinden. China und die USA brauchen einander beim Klima; bei ihren Bemühungen um eine Kontrolle des Zugriffs auf Mikrochips stehen sie miteinander in Konkurrenz und über Taiwan sind sie in Streit geraten. Dies ist weder „gut“ noch „schlecht“, sondern spiegelt lediglich wider, wie die Welt zurzeit funktioniert. Diplomatie muss in der Lage sein, mit dieser Vielschichtigkeit umzugehen, selbst wenn das rhetorisch und politisch unbefriedigend ist.

Zu guter Letzt muss es Alternativen geben. Die offizielle Diplomatie hat vielleicht den Krieg in der Ukraine nicht verhindern können, doch es gab durchaus diplomatische Erfolge, wie das Getreideabkommen zwischen Russland und der Ukraine, das mit dazu beitrug, die Lebensmittelpreise für hunderte Millionen Menschen im gesamten Globalen Süden zu regulieren. Was diese Errungenschaft mit anderen Erfolgen, wie z.B. den Gesprächen, die zu einem Ende des Kriegs in Tigray führten, gemein hat, ist, dass es sich dabei um eine Hybridleistung handelt. Involviert waren neben privaten DiplomatieakteurInnen wie dem Centre for Humanitarian Dialogue, das sowohl das Getreideabkommen als auch den Tigray-Prozess initiierte, auch offizielle multilaterale Gremien, die mit der stillen Unterstützung einzelner Regierungen agierten. Auch andere PrivatakteurInnen, wie die in London ansässige Organisation Inter Mediate und die Gemeinschaft Sant’Egidio in Rom, konnten bei der Beendigung von Kriegen eine nützliche Rolle einnehmen. Mit anderen Worten: Eine Antwort auf hybride Kriege ist die hybride Diplomatie.

Charles-Maurice de Talleyrand – der renommierte französische Diplomat aus dem 19. Jahrhundert – hatte vielleicht Recht damit, dass Diplomatie nicht trop de zèle (zu viel Eifer) beinhalten sollte. Jedoch genügend genug zèle, damit Prioritäten gesetzt und verfolgt werden können, ohne die anderen Parteien gegen sich aufzubringen, wäre ein guter Anfang, um den Niedergang der Diplomatie umzukehren.


Über den Autor

David Harland ist Geschäftsführer des Centre for Humanitarian Dialogue und gehört dem vom UN-Generalsekretär einberufenen hochrangigen Beratungsgremium für Mediation an.

Disclaimer
Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Meinungen sind die der Autoren. Sie geben nicht vor, die Meinungen oder Ansichten des Geneva Policy Outlook oder seiner Partnerorganisationen wiederzugeben.