GPO 2025

Gewinner bei einem verlorenen Spiel: In einem brennenden Nahen Osten ist Frieden ein Sicherheitsimperativ

Inmitten des sich ausweitenden Konflikts im Nahen Osten beleuchtet Hiba Qasas die veränderten Realitäten seit dem 7. Oktober 2023 und erörtert, wie nicht-traditionelle Friedensstifter pragmatische Bemühungen zur Beendigung des Konflikts unterstützen.

Geneva Policy Outlook
20. Januar 2025
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Foto von khalid kwaik / Unsplash

Hiba Qasas

Im September 2023 zeichnete Jake Sullivan, Mitglied des Nationalen Sicherheitsrates der USA, das Bild von einem „ruhigeren“ Nahen Ostens. Viele teilten die Ansicht, dass der Status quo dauerhaft zu sein scheine und es keinen zwingenden Grund gebe, sich mit der israelisch-palästinensischen Frage zu befassen. Regionale Normalisierungsbemühungen schienen die Palästinafrage zu umgehen, und da sich die internationale Aufmerksamkeit sich auf andere Dinge konzentrierte, gab es keine Dringlichkeit, sie wieder aufzugreifen.

Am 7. Oktober wurde diese zerbrechliche Illusion zerstört. Das Ausmaß des Traumas war gewaltig. Mehr als 1200 Israelis kamen bei den Angriffen ums Leben, über 100 Geiseln werden noch immer festgehalten. Ein Jahr später hatte der Krieg rund 45 000 Palästinenserinnen und Palästinenser das Leben gekostet, darunter 13 000 Kinder. Mehr als 90% der Bevölkerung des Gazastreifens wurde vertrieben, Gaza liegt in Schutt und Asche. Dies ist nicht nur eine Eskalation des Konflikts und eine humanitäre Katastrophe. Dieser Krieg verdeutlicht die existenzielle Bedrohung und das generationenübergreifende Trauma, das Israelis und Palästinenser gleichermaßen empfinden.

Der 7. Oktober unterstrich den dringenden Bedarf an neuen Säulen: Diplomatie und politisches Engagement. Ohne sie ist kein Sicherheitskonzept vollständig.

Am 7. Oktober offenbarten sich die große Illusion und das weitgehende Scheitern der harten Sicherheitsdoktrinen, als drei Säulen des israelischen Sicherheitskonzepts zusammenbrachen: Abschreckung, Aufklärung und ein schneller, entschlossener Sieg. Dies unterstrich den dringenden Bedarf an neuen Säulen: Diplomatie und politisches Engagement. Ohne sie ist kein Sicherheitskonzept vollständig.

Ohne Konfliktlösung wird keine Eindämmungspolitik nachhaltig sein. Auf dem Weg zu dauerhafter Stabilität in der Region kann die Realität der Besatzung und der Unsicherheit nicht länger ignoriert werden. Der gegenwärtige Zeitpunkt ist nicht nur ein strategischer Wendepunkt für Israel, sondern für die gesamte Region, die sich heute mit einer Landschaft konfrontiert sieht, die unausgewogener und instabiler ist als je zuvor.

Drei wichtige Richtungswechsel: Eine neue Realität

Die aktuelle Krise zwingt uns dazu, uns mit drei wichtigen Richtungsänderungen auseinanderzusetzen, die eine neue Realität für die Region signalisieren:

  1. Die Erkenntnis, dass der Status quo nicht haltbar ist: Der Status quo bringt den Israelis keine Sicherheit und den Palästinensern weder Würde noch Selbstbestimmung, aber zwingt beide Gesellschaften zur Einsicht, dass militärische Mittel kein Allheilmittel sind. Ungeachtet der radikalen Stimmen, die sich immer mehr in den Vordergrund drängen, wächst auch die Einsicht, dass Fortschritte in der Region nur durch eine direkte Auseinandersetzung mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt erreicht werden können. Während eine Zweistaatenlösung in Israel mit nur 34% generell wenig Zustimmung findet, steigt die Befürwortung auf über 60 % wenn sie im Rahmen einer regionalen Normalisierungsagenda und eines umfassenden politischen Sicherheitskonzepts formuliert wird. Unter den Palästinenserinnen und Palästinensern unterstützen 70% entweder ein Zwei-Staaten-Modell oder eine Zwei-Staaten-Allianz.
  2. Ein Richtungswechsel in der internationalen Dynamik: Nach Jahren Vernachlässigung ist der israelisch-palästinensische Konflikt wieder in den Fokus der Weltöffentlichkeit gerückt. Pro-israelische und pro-palästinensische Bewegungen verstärken die zunehmende Polarisierung, den wachsenden Antisemitismus und die wachsende Islamophobie, sowohl an den Universitäten, als auch auf der Straße und in Wahlkämpfen. Die internationalen Akteure haben jetzt einen zwingenden Grund zu handeln. Sie verfügen jetzt über einen Hebel und den nötigen Druck, um eine unverzichtbare Rolle bei der Lösung des Konflikts zu spielen.
  3. Führungsdefizite: Der tief verwurzelte Mangel an Vertrauen in die politische Führung Gesellschaften ermöglicht es neuen Akteuren – Wirtschaftsführern, Sicherheitsexperten, Meinungsführern, Eliten, der Zivilgesellschaft und sogar ungewöhnlichen politischen Verbündeten – auf den Plan zu treten. Die Unfähigkeit oder der Unwille der alten Garde, sich vorwärts zu bewegen, öffnet die Tür für eine vom Volk angeführte Bewegung für eine neue Vision.

Spielveränderung: Die neuen Friedens-Champions

Israelische und palästinensische Wirtschaftsunternehmen und Sicherheitsinstitutionen spiegeln den Richtungswechsel in der öffentlichen Meinung wider. Obwohl sie traditionell nichts mit Friedensaktivismus zu tun haben, äußern sie sich immer lauter über die existenzielle Bedrohung durch die Rückkehr zum Status quo. Sie nennen dabei vielleicht Begriffe wie „Teilung“ oder „Trennung“, aber das Ziel ist letztlich dasselbe: eine Zwei-Staaten-Lösung, die Sicherheit für Israel bietet und Selbstbestimmung für die Palästinenser bietet. Dieser pragmatische Ansatz findet im gesamten politischen Spektrum immer mehr Anhänger. Diese Akteure haben erkannt, dass das Warten auf die perfekten Bedingungen für einen Frieden eine Garantie für die Fortsetzung des Konflikts ist.  

Israelische und palästinensische Wirtschaftsunternehmen und Sicherheitsinstitutionen äußern sich immer lauter über die existenzielle Bedrohung durch die Rückkehr zum Status quo.

Inmitten der ganzen Tragödie und der radikalen Stimmen gibt es noch immer Hoffnung. Ein aktuelle Umfrage zeigt, dass 74% der Israelis jetzt die Lösung der Palästinafrage als entscheidend für ihre Sicherheit ansehen. Doch das Misstrauen bleibt jedoch tief verankert: 86% der israelischen Juden und 94% der Palästinenser halten die jeweils andere Seite für nicht vertrauenswürdig. Jahrzehntelange Gewalt, Traumata und widersprüchliche Narrative nähren die weit verbreitete Entmenschlichung und machen es schwierig, gemeinsame Lösungen zu finden.

Bei Principles for Peace und der Initiative Uniting for a Shared Future (Vereinigt für eine gemeinsame Zukunft) (USF) haben wir gesehen, wie diese Bewegung Gestalt annahm und die Führungskräfte aus Wirtschaft, Sicherheit, Medien, Politik und Zivilgesellschaft zusammenbrachte. Unsere Koalition hat sich fünf Leitprinzipien zu eigen gemacht: gegenseitige Anerkennung des Rechts beider Völker auf Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit; Schutz und Sicherheit; Würde; Handlungsfähigkeit und Inklusion sowie Vertrauen durch Heilung. Diese Prinzipien bilden die Grundlage für einen neuen politischen Rahmen.

Trotz der Behauptungen, es gäbe keine Partner auf der anderen Seite, gibt es sehr wohl auf beiden Seiten Partner für den Frieden. Die USF-Koalition steht bereit, sich den Einfluss, die Glaubwürdigkeit und den Einfallsreichtum ihrer Mitglieder voll zu nutzen, um starke Partnerschaften mit internationalen und regionalen Akteuren aufzubauen. Unmittelbare Priorität hat die Beendigung der anhaltenden Gewalt in ihren unzähligen Facetten. Um die Grundlagen für einen dauerhaften Frieden zu schaffen, ist es unerlässlich, Pläne für den Wiederaufbau nach dem Krieg zu entwickeln.

Mehr Krieg oder Frieden

Der Weg zum Frieden ist oft kürzer, wenn man die Tiefen des Schmerzes und des Verlustes durchschreitet, als wenn man aus der Bequemlichkeit des Status quo handelt. Die Unmittelbarkeit der gegenwärtigen Krise drängt zum Handeln. Jenseits der humanitären Probleme bietet sich eine seltene strategische Chance. Die Frage ist, ob die politischen Führer diese Gelegenheit ergreifen oder ob sie sie verstreichen lassen und damit eine weitere Generation zu Konflikten verdammen.

Echter Realismus bedeutet heute anzuerkennen, dass Frieden alles andere als ein idealistischer Luxus ist, sondern der einzige pragmatische Weg nach vorn. Die Alternative ist ein endloser Kreislauf der Gewalt, der den Interessen von keiner Seite dient.

Wer die Friedensinitiativen als naiv abtut, muss sich einer unbequemen Wahrheit stellen: Der gegenwärtige Ansatz bringt weder Sicherheit für Israel noch Würde und Selbstbestimmung für die Palästinenser. Echter Realismus bedeutet heute anzuerkennen, dass Frieden alles andere als ein idealistischer Luxus ist, sondern der einzige pragmatische Weg nach vorn. Die Alternative ist ein endloser Kreislauf der Gewalt, der den Interessen von keiner Seite dient.

Die Gelegenheit wahrnehmen

Diese Chance wird sich zu unseren Lebzeiten vielleicht nie wieder bieten. Wenn wir sie verpassen, wird der Preis dafür nicht nur in den Opfern von heute bestehen, sondern auch in der Zukunft, die wir Generationen von israelischen und palästinensischen Kindern vorenthalten.

Letztlich gibt es nur zwei Wege, die nach vorne führen: die weitere Zerstörung beider Gesellschaften durch den Krieg oder eben Frieden. Die Gewinner in diesem Verlustgeschäft werden diejenigen sein, die sich nicht an das Drehbuch halten – diejenigen, die jetzt anfangen, Frieden zu stiften, und die erkennen, dass der wahre Sieg darin besteht, dem Ganzen ein für alle Mal ein Ende zu setzen.


Über den Autor

Hiba Qasas ist Gründungsgeschäftsführerin der Stiftung Principles for Peace in Genf und Friedensstifterin mit über 22 Jahren Erfahrung in der Konfliktbewältigung und Friedenskonsolidierung. Sie war bei den Vereinten Nationen in Führungspositionen tätig, darunter als Länder Repräsentantin im Irak und Leiterin der Nahost- und Nordafrika-Sektion von UN Women. Außerdem ist Hiba Miteinberufende von Uniting for a Shared Future und arbeitet zusammen mit israelischen und palästinensischen Führungsverantwortlichen an der Förderung von Sicherheit, Würde und Eigenstaatlichkeit für beide Völker. Ihre Sachkompetenz umfasst von Krisen betroffene Regionen, Resilienz und Ermächtigung von Frauen.

Disclaimer
Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Meinungen sind die der Autoren. Sie geben nicht vor, die Meinungen oder Ansichten des Geneva Policy Outlook oder seiner Partnerorganisationen wiederzugeben.