GPO 2025

Die Natur braucht einen Platz am Tisch im neuen Multilateralismus

Hugo Slim plädiert für einen innovativen Ansatz zur Bewältigung der Klimakrise und fordert, dass die Natur nicht mehr nur als ständiger Beobachter des Genfer Politikraums ist, sondern bei den Entscheidungsprozessen mit am Tisch sitzt.

Geneva Policy Outlook
20. Januar 2025
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Foto von Salah Darwish / Unsplash

Hugo Slim 

Die Stadt Genf ist ein seltsamer Widerspruch in sich. Eingebettet in die herrlichste Natur ist dort immer nur von Menschen die Rede. Die Genfer Diplomaten und internationalen Verwaltungsbeamten kehren der Natur den Rücken zu und ignorieren die prächtige Landschaft, um sich hauptsächlich auf eine Spezies zu konzentrieren.  

Diese Gleichgültigkeit gegenüber der Natur ändert sich an den Wochenenden, wenn viele internationale Genfer in Richtung Berge, Seen und Wälder unterwegs sind. Doch anstatt nur in ihrer Freizeit im Mittelpunkt zu stehen, sollte die Natur auch unter der Woche einen wesentlichen Teil ihres Multilateralismus ausmachen. Genf befindet sich an der richtigen Stelle, um einen neuen naturnahen Ansatz in der Weltpolitik zu entwickeln, und zwar schnell.

Die Erde im Mittelpunkt der internationalen Politik

Genfs diplomatischer toter Winkel in Bezug zur Natur muss sich ändern. Das verlangt allein schon der Klima Notstand, und es gibt positive Anzeichen, dass bereits ein Wandel im Gange ist.

Die Weltorganisation für Meteorologie (World Meteorological Organisation; WMO) ist inzwischen ein wichtiger Akteur in der sich ändernden Weltpolitik, nachdem es ganz anders begonnen hat wetterbedingten Gefahren und Tendenzen auf der Erde zu kommunizieren. Die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften (IKRK) und der World Wide Fund for Nature (WWF) haben sich zusammengeschlossen, um globale Maßnahmen angesichts der weltweiten Klimakrise zu ergreifen. Das Sphere Project, die Internationale Union zur Bewahrung der Natur (International Union for the Conservation of Nature; IUCN) und das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) haben gemeinsam neue Richtlinien für naturnahe Lösungen in der humanitären Hilfe erstellt. Das IKRK legt immer mehr Gewichtung im Zuge des humanitären Völkerrechts auf den Schutz der Umwelt.

Ein Großteil der Genfer Arbeit ist auf das Klima ausgerichtet. Dennoch wäre sie eher als eine Agenda zum Schutz der Erde für den Menschen und die Natur in den nächsten Jahren zu bezeichnen. Obwohl der Klimawandel die Ursache unserer Zwangslage in diesem Jahrhundert ist, sollten seine Folgen besser als die ganze Welt betreffende Notsituation gesehen werden. Die Menschheit ist dabei mehr als spezifisches Mitglied einer größeren globalen Gemeinschaft zu verstehen und nicht als eine alleinstehende Spezies.

Wenn sich der politische Diskurs nur um den Klimawandel dreht, bleiben wir mit dem Kopf in den Wolken. Eine so genannte Erdpolitik, in der es um Strategien geht, mit denen man der Menschheit und allen anderen Lebewesen hilft und die Kipppunkte des Erdsystems verhindern will, würde verhindern, dass die Welt für Menschen und den Großteil der Artenvielfalt, die wir lieben und brauchen, unbewohnbar werden würde. Zu diesen Kipp Punkten gehören Veränderungen in der Kryosphäre und Hydrosphäre, wie das Abschmelzen der Gletscher und die Erwärmung des Genfersees.

Anerkennen, dass die Menschheit auf der Natur basiert

Genf hat sich in den letzten zweihundert Jahren durch zahlreiche Normen, Abkommen und Institutionen stark für die Menschheit eingesetzt und unsere Spezies dabei als eine einzige moralische Gemeinschaft anerkannt, die füreinander sorgen muss. Doch nun muss das Internationale Genf weitergehen.

In den 2020ern und 2030ern muss das Internationale Genf die Doktrin der Menschlichkeit vertiefen, die unsere gemeinsame Identität und unsere gemeinsamen Interessen mit der größeren Erdgemeinschaft von Pflanzen, Tieren und ihren Ökosystemen anerkennt.

In den 2020ern und 2030ern muss das Internationale Genf die Doktrin der Menschlichkeit vertiefen, die unsere gemeinsame Identität und unsere gemeinsamen Interessen mit der größeren Erdgemeinschaft von Pflanzen, Tieren und ihren Ökosystemen anerkennt. Die Anerkennung der Menschheit als Teil der Erdgemeinschaft wird zu einer Politik führen, die die gegenseitigen Interessen von Mensch und Natur, von denen unser Leben und unsere Lebensgrundlagen abhängen, wertschätzt und schützt.

Das menschliche Leben ist nichts ohne das Leben der anderen. Die Bedürfnisse der Natur und die Bedürfnisse der Menschen überschneiden sich häufig. Die Entscheidungsträger in der internationalen Politik müssen gemeinsamen Hilfsstrategien Vorrang einräumen, bei denen der Mensch der Natur und die Natur dem Menschen hilft. Eine Entwicklung und humanitäre Hilfe, die den Menschen ausdrücklich als Teil der Natur betrachtet, muss durch neue Politiken und die neuen Praktiken innerhalb und außerhalb aller Genfer Institutionen aktiv unterstützt werden.  

Die Natur in Genf und darüber hinaus vertreten  

Die Natur muss einen Platz in den zahlreichen Sitzungen und Verhandlungen in Genf erhalten, denn sie hat einen klaren Anteil an der politischen Entscheidungsfindung.

Ein wesentlicher Schritt, um diesen Einklang mit der Natur zu erreichen, besteht darin, die Natur als eigenständiges politisches Thema zu begreifen und in der Genfer Diplomatie entsprechend zu vertreten. Die Natur muss einen Platz in den zahlreichen Sitzungen und Verhandlungen in Genf erhalten, denn sie hat einen klaren Anteil an der politischen Entscheidungsfindung.

Die dringende Aufgabe des Multilateralismus ist es, die Bedürfnisse und die Autorität der Natur an den Verhandlungstisch zu bringen. Würden Vertreterinnen und Vertreter für Wälder, Flüsse, Tiere und Ökosysteme in die Politik berufen, würde dies der Natur einen Personenstatus verleihen. Alternativ kann dies durch die aktive Entwicklung von Naturrechten und der Rechte von Mutter Erde oder durch ein neues Menschenrecht auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt im Menschenrechtsrat geschehen. Das humanitäre Völkerrecht erkennt den zivilen Status des Naturraums bereits an.

In dieser Hinsicht ist der neue Zukunftspakt der Vereinten Nationen eine Enttäuschung. Er bietet keine neue Vision der Natur in der Weltpolitik und schafft es nicht, die Erde und ihren Schutz als absolute Notwendigkeit für das Gelingen der Menschlichkeit in den Mittelpunkt zu stellen. Dieses elementare Versäumnis von New York kann nun in Genf schrittweise nachgeholt werden, indem die Natur dringend an den Verhandlungstisch geholt wird. 

Die WHO und die Genfer Gesundheitsorganisationen arbeiten bereits zügig an der Priorisierung politischer Leitlinien wie „One Health“ oder „Planetarische Gesundheit“ , die unsere Beziehung zur Natur als wichtige Determinante der menschlichen Gesundheit anerkennen und die durch den Klimawandel verschärften Gesundheitsrisiken verringern.  

Auch die WTO und die ILO müssen eine Rolle spielen. Handels- und Arbeitspolitik müssen die Bedürfnisse und die Rolle der Natur beim Aufbau einer neuen grünen Wirtschaft unbedingt anerkennen. Ein naturfreundlicher Handel ist unerlässlich, wenn Unternehmen neue Synergien mit der Natur durch die Erzeugung erneuerbarer Energien, eine Materialrevolution, angepasste Infrastrukturen und eine widerstandsfähige Landwirtschaft finden. 

UNHCR und IOM müssen sich gemeinsam mit WWF, IUCN und WHO mit den Bewegungen und der Immobilität von Tieren, Pflanzen, Insekten und Mikroben zu befassen, deren Lebensräume durch den Klimawandel zerstört werden und die zusammen mit den Menschen migrieren müssen.

Genfer Friedensorganisationen wie das Centre for Humanitarian Dialogue und Interpeace müssen die Natur als eine der Verhandlungspartner betrachten, damit die Menschen Frieden mit der Natur schließen können. Eine solche Friedensstiftung bedeutet auch, die Gewalt gegen die Natur und zwischen den Völkern zu verringern, indem man sie über gemeinsame Interessen wie Wasser, Boden, Ökosysteme, Nutztierhaltung, Abkühlung und Biodiversität zusammenbringt. Vieles kann durch vertrauliche „Erddiplomatie“ erreicht werden, die politische Verwicklungen vermeiden.

Letztlich müssen sich Menschen- und Naturschutzorganisationen enger verbünden. Die beiden größten Naturschutzorganisationen IUCN und WWF sollten aufgrund ihres Wissens, ihrer Netzwerke und ihrer Kompetenzen mit offenen Armen empfangen werden. Sie sollten regelmäßig nach Genf eingeladen werden, um den Tunnelblick der menschen zentrierten Mandate der dortigen Institutionen zu korrigieren.  

Im heutigen Multilateralismus muss die Natur von ihrem Posten als ständiger Beobachter der Politik des internationalen Genfs von den umliegenden Gipfeln herabsteigen und ihren rechtmäßigen Platz als ständiges Mitglied des internationalen Genf mit eigener Mission und eigenen Delegierten einnehmen.


Über den Autor

Hugo Slim ist Forschungsbeauftragter am Las Casas Institut für soziale Gerechtigkeit, Blackfriars Hall, an der Universität Oxford und Gastprofessor an der Internationalen Akademie des Roten Kreuzes / Roten Halbmondes an der Universität von Suzhou. Sein neues Buch trägt den Titel Humanitarianism 2.0 - New Ethics for the Climate Emergency (Humantarismus 2.0 - Eine neue Ethik für den Klimanotstand).

Disclaimer
Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Meinungen sind die der Autoren. Sie geben nicht vor, die Meinungen oder Ansichten des Geneva Policy Outlook oder seiner Partnerorganisationen wiederzugeben.