GPO 2024

Die Suche nach Frieden in der Ukraine

Inmitten des russischen Krieges gegen die Ukraine gab es zahlreiche friedensstiftende, humanitäre und Wiederaufbauinitiativen. Fred Tanner untersucht die Rolle des Internationalen Genf und plädiert für multilaterale und effektivere Ansätze zur Konfliktbewältigung und ‘multi-track’ Diplomatie.

Geneva Policy Outlook
5. Februar 2024
6 Minuten lesen
Foto von Julia Rekamie / Unsplash

Fred Tanner

Von den Genfer Gesprächen zum Minsker Abkommen

Russlands Krieg gegen die Ukraine begann nicht erst 2022, sondern bereits im März 2014. Nach der Maidan-Revolution annektierte Russland die Krim und schürte die gewaltsame Separatistenbewegung im Donbass, was zu über 13‘000 Toten und Millionen vertriebener Menschen führte. Zusammen mit internationalen Organisationen und Nichtregierungsorganisationen war das internationale Genf maßgeblich daran beteiligt, die Ukraine bei der Konfliktbewältigung und der humanitären Hilfe zu unterstützen. 

Im April 2014 fand in Genf die erste große Konferenz statt, mit der eine friedliche Beilegung des Ukraine-Konflikts erreicht werden sollte und welche die AußenministerInnen der Vereinigten Staaten (USA), der Europäischen Union (EU), Russlands und der Ukraine an einen Tisch brachte. Die siebenstündigen intensiven Verhandlungen der „Genfer Kontaktgruppe“ gipfelten in einer „Gemeinsame Genfer Erklärung“, in der konkrete Schritte, wie etwa die Entwaffnung illegaler Gruppierungen, Amnestie, Verfassungsreform, Dialog und die Stärkung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), umrissen wurden. 

Frieden kann nur erzielt werden, wenn er glaubwürdig, durchsetzbar und nachhaltig ist.

Leider erwies sich die Genfer Erklärung als nur von kurzer Dauer, doch die vereinbarten Schritte wurden zu Leitlinien im darauffolgenden, vom Normandie-Format betriebenen Friedensprozess (unter Veranlassung von Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine), welcher schließlich zum Minsker Friedensabkommen führte. Das Abkommen von Minsk, das eine friedlichen Beilegung des Konflikts im Osten der Ukraine durch einen Waffenstillstand, den Abzug von Truppen, Wahlen und politische Reformen anstrebte, war in der Ukraine besonders umstritten. Viele betrachteten es als eine Legitimierung der russischen Ansprüche auf ukrainisches Gebiet. Deshalb geriet die Umsetzung des Minsker Abkommens ins Stocken. Frieden kann nur erzielt werden, wenn er glaubwürdig, durchsetzbar und nachhaltig ist. 

Im Vorfeld des amerikanisch-russischen Gipfels 2021 in der geschichtsträchtigen Villa Grange in Genf war man in Bezug auf mögliche Fortschritte beim angestrebten Frieden in der Ukraine verhalten optimistisch. Doch Präsident Biden und Präsident Putin legten lediglich ein Lippenbekenntnis zum Abkommen von Minsk ab und räumten stattdessen bilateralen strategischen Rüstungskontrollgesprächen höhere Priorität ein. Auffällig ist, in welch krassem Gegensatz der versöhnliche diplomatische Ton in Genf zur späteren russischen Großinvasion der Ukraine wenige Monate später stand. Diese führte dazu, dass sich heute die USA und Russland defacto im Kriegszustand miteinander befinden.

Friedensverhandlungen inmitten eines großangelegten Krieges

Russlands Einmarsch in die Ukraine 2022 zerschlug das Verhandlungsformat von Minsk, welches den einzigen verbleibenden multilateralen Rahmen für eine diplomatische Lösung darstellte. Zur Überraschung vieler fanden sich die kriegführenden Parteien keine vier Tage nach der Invasion am Verhandlungstisch wieder, zuerst in Belarus, danach in Istanbul. Obwohl das Land noch immer massiven Angriffen ausgesetzt war, richtete die Ukraine über die Hintertür Gesprächskanäle ein und eröffnete über die Türkei den Dialog mit Russland in Vorbereitung auf die Verhandlungen. 

Mit dem „Istanbuler Kommuniqué“, das die Bedingungen für einen Waffenstillstand umriss, zu der auch die dauerhafte Neutralität der Ukraine und internationale Sicherheitsgarantien gehörten, machte die Ukraine erhebliche Zugeständnisse. Die Ukraine schlug vor, den Status der Krim für 15 Jahre einzufrieren, doch Russland ließ sich bei seinen Kernforderungen in Bezug auf die Kontrolle über die Krim und die „Donbass-Republik“ nicht auf Kompromisse ein. Zur Klärung dieser ausweglosen Situation und als Reaktion auf die ihm vorgeworfene Untätigkeit, schlug der UN-Generalsekretär einen Friedensplan vor, der folgendes umfasste: einen Waffenstillstand, den Abzug der russischen Truppen, Gewährung von humanitärer Hilfe und den politischen Dialog. Doch als sich das Kräftespiel auf dem Schlachtfeld verlagerte und russische Kriegsverbrechen aufgedeckt wurden, schwanden die Hoffnungen auf eine friedliche Einigung.

Im Laufe der Auseinandersetzung ruhte die Hoffnung auf dem anhaltenden internationalen Druck. Obwohl Chinas Friedensplan für die Ukraine eher richtungweisend und prinzipiengeleitet war, als dass er umsetzbar gewesen wäre, sprach er sich doch gegen eine atomare Eskalation aus und spiegelte Chinas wachsende Besorgnis wider. Diese wurde auch mit Chinas Ernennung eines Sondergesandten für Eurasische Angelegenheiten deutlich. Andere Friedensvorschläge, hauptsächlich von Seiten der BRICS Staaten und einiger afrikanischer Länder, rieten zu Gebietsabtretungen an Russland im Austausch gegen Frieden. Präsident Selenskyj lehnte jedoch kategorisch sämtliche Vorschläge ab, bei denen die Ukraine Gebiete an Russland abtreten sollte und beharrte darauf, dass ein Sieg gegen Russland der einzige akzeptable Ausgang sei. 

Im Laufe der Auseinandersetzung ruhte die Hoffnung auf dem anhaltenden internationalen Druck.

Im Mai 2023 verlängerte Präsident Selenskyj seinen eigenen 10-Punkte-Friedensplan mit einer Friedenskampagne, die er durch Treffen in Kopenhagen, Dschidda und Malta einleitete und die ihren Höhepunkt in einem Friedensgipfel fand. Bei dieser innovativen Vorgehensweise wurden Arbeitskreismethoden eingesetzt, um die Länder des Globalen Südens, die ansonsten dem europäischen Konflikt und der Notlage der Ukraine gegenüber gleichgültig geblieben wären, miteinzubinden und ihnen mehr Verantwortung zu übertragen.

Humanitäre Diplomatie im Ukraine-Konflikt

Angesichts der Realität des andauernden Krieges und des Versagens vorheriger diplomatischer Bemühungen verlagerten sich die internationalen Verhandlungen auf humanitäre Belange mit dem Ziel, „Leben zu retten“, wie es der ehemalige ukrainische Unterhändler Rustem Umerow ausdrückte. Ukrainische UnterhändlerInnen, die schon zuvor an Gesprächen mit Russland in Belarus und Istanbul mitgewirkt hatten, gingen zur Vermittlung in Sachen humanitärer Hilfe über. Diese Mediation umfasste Verhandlungen über den Austausch von Gefangenen und die Bildung humanitärer Korridore für die Evakuierung der Zivilbevölkerung aus den belagerten Städten. 

Mit der vom Büro des UN-Generalsekretärs ausgehandelten und von der Türkei unterstützten Schwarzmeer-Getreide-Initiative (SGI) wurde ein beachtlicher Erfolg in der humanitären Hilfe inmitten des Krieges erzielt. Eine wichtige Rolle bei der Schaffung dieses komplizierten Konstrukts spielte das Centre for Humanitarian Dialogue, eine in Genf ansässige Nichtregierungsorganisation, die mit der UNO und anderen externen AkteurInnen eine Koalition „von außen nach innen“ aufbaute, bevor die Ukraine und Russland einbezogen wurden. Leider scheiterte die SGI aufgrund der Strenge der EU-Sanktionen und der russischen Sturheit. 

Um in den ukrainischen Konfliktzonen eine nukleare Katastrophe zu verhindern, schlug die Internationale Atomenergiebehörde IAEA zudem einen kühnen humanitären Diplomatiekurs ein. Die Behörde erstellte einen Plan zur Schaffung einer entmilitarisierten atomaren Sicherheitszone im Umkreis um das Atomkraftwerk Saporischschja. Gleichzeitig setzten IAEA-InspekteurInnen die im „Grossi-Plan“, einer Zusammenstellung von sieben Schritten für die ukrainische Atomsicherheit, umrissenen Maßnahmen zur Kraftwerkssicherheit um. Mit seiner Aussage „Wir gehen nirgendwohin“ bestätigte Generaldirektor Grossi die anhaltende Präsenz der IAEA.

Wiederaufbau und Neuaufbau

Über 20 UN-Behörden, internationale Organisationen und Nichtregierungsorganisationen (von denen etliche in Genf ansässig sind) arbeiteten eng mit der ukrainischen Regierung an Friedensstiftung, humanitären Maßnahmen und Initiativen zum Wiederaufbau zusammen. In Genf unterstützen das „Maison de la Paix“ und seine Institutionen die ukrainische Regierung durch Kapazitätsaufbau, humanitäre Minenräumung, eine Reform der Sicherheitssektoren und Gespräche über halboffizielle Kanäle, als diese sich mit Sicherheitsgarantien, der Reduzierung atomarer Gefahren und dem Neu- und Wiederaufbau nach dem Krieg befasste. Die Geneva Peacebuilding Platform (GPP) ermoglichte den Informationsaustausch im Rahmen dieser Initiativen in Zusammenarbeit mit den UN-Behörden und anderen in der Stadt ansässigen internationalen Organisationen. Gleichzeitig engagierten sich Nichtregierungsorganisationen aktiv auf verschiedenen Gebieten. So spielten etwa die Bemühungen der ALIPH-Stiftung in der Ukraine eine wichtige Rolle bei der Bewahrung des Kulturerbes im Land für künftige Generationen. 

Beim Wiederaufbau war die Ukraine auf verschiedene AkteurInnen, darunter internationale Organisationen, Geberländer, privatwirtschaftliche Unternehmen und die Zivilgesellschaft, angewiesen. Auf der Ukraine-Wiederaufbaukonferenz in Lugano wurden die „Prinzipien von Lugano“ festgelegt, die neben den „sieben Schritte“ der EU für die Beitrittsverhandlungen einen gemeinsamen Rahmen für den Neu- und Wiederaufbau bilden. In Zukunft könnten sich die in Genf ansässigen Organisationen weiter für die Bedürfnisse der Ukraine beim Wiederaufbau einsetzen, vor allem wenn es um wirtschaftliche Reformen, Minenräumung, Antikorruptionsmaßnahmen und die Kontrolle des Sicherheitssektors geht. 

Weltweite Herausforderungen über die Ukraine hinaus: Genfs Vorbereitungen auf das Jahr 2024

Die jüngste Erfolgsbilanz des internationalen Genf dient für 2024 als solide Grundlage zur Bewältigung der Folgen des anhaltenden Krieges in der Ukraine. Dennoch erscheinen die globalen Aussichten auf das kommende Jahr düster. Geostrategische Schieflagen zerrütten das Fundament für die Leitlinien einer Global Governance und der regelbasierten internationalen Ordnung. Bewaffnete Konflikte im Nahen Osten, der Ukraine und anderen Regionen haben auch weiterhin katastrophale Auswirkungen auf das Schicksal von Millionen von Menschen.

Das internationale Genf, seine Mitgliedsorganisationen und Netzwerke müssen für 2024 mit einem Anstieg an Anfragen rechnen, die Mediation, humanitäre Hilfe, Wiederaufbau und die Ausrichtung von Friedensgesprächen umfassen.

Dementsprechend müssen das internationale Genf, seine Mitgliedsorganisationen und Netzwerke für 2024 mit einem Anstieg an Anfragen rechnen, die Mediation, humanitäre Hilfe, Wiederaufbau und die Ausrichtung von Friedensgesprächen umfassen. Um erfolgreich einen Weg durch diese Herausforderungen zu finden, müssen sie sowohl am Hauptsitz als auch im Außendienst darauf vorbereitet sein. Das geht einher mit einer verstärkten institutionenübergreifenden Zusammenarbeit, der Bündelung von Ressourcen, einer Verbesserung der Effektivität, der Zugangssicherung, Wahrung der Sorgfaltspflicht, einer Reduzierung bürokratischer Hürden, dem Austausch bewährter Methoden und der Förderung stabiler Beziehungen zu allen Konfliktparteien. Mithilfe solcher Schritte kann sich das internationale Genf besser positionieren, um den Bedürfnissen einer sich wandelnden Welt nachzukommen.


Über den Autor

Fred Tanner, Botschafter (a.D.), ist Gastprofessor am Geneva Graduate Institute, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centre on Conflict, Development and Peacebuilding (CCDP) des Instituts und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik (GCSP). The author extends his appreciation to Dr. Peter Batchelor for sharing valuable insights in crafting this article.

Disclaimer
Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Meinungen sind die der Autoren. Sie geben nicht vor, die Meinungen oder Ansichten des Geneva Policy Outlook oder seiner Partnerorganisationen wiederzugeben.