GPO 2024

Menschenrechte und Krieg

Es ist an der Zeit, eine ernsthafte Diskussion über Krieg und Menschenrechte zu führen. Andrew Clapham betont die Rolle der Menschenrechte bei der Festlegung der Pflichten von Konfliktparteien und wie Menschenrechte ein zusätzliches Instrument zum Schutz der Zivilbevölkerung in Kriegszeiten sein können.

Geneva Policy Outlook
5. Februar 2024
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Foto von Teemu Paananen / Unsplash

Andrew Clapham

Im Jahr 2023 forderte Hugo Slim in einem Artikel für den Geneva Policy Outlook neue Richtlinien für die globale Wirtschaftskriegsführung. Ihn beunruhigten die wirtschaftlichen Folgen, die ein Krieg über die kriegsführenden Parteien hinaus haben kann. Er lenkte die Aufmerksamkeit zurecht auf dieses Thema, und zurecht räumte er ein, es werde „Jahre dauern, bis die Staaten sich auf ein Abkommen geeinigt haben“, das neue Verhaltensregeln oder Prinzipien enthält. Seine Lösung? Eine Hinwendung zu den Menschenrechten.

Lange galten die Menschenrechte in Zeiten bewaffneter Auseinandersetzungen als unzweckmässig, ja sogar als unanwendbar. Grob ausgedrückt: Die Menschenrechte wurden als Gesetze für Friedenszeiten betrachtet. Kriegszeiten, so nahm man an, müssten vom humanitären Völkerrecht geregelt werden. Hinzu kommt, dass einige humanitäre Hilfeleistende die Menschenrechte als weniger allgemeingültig verstehen als das humanitäre Völkerrecht und auch als politischer. Die Menschenrechtsdebatte in der Generalversammlung und der UN-Menschenrechtskommission wurde als politisch und kontrovers angesehen; und den Menschenrechten wurde nachgesagt, sie seien unpraktikabel, ja sogar zu kompliziert, um von „gewöhnlichen Soldaten“ angewendet zu werden. Ich habe sogar schon sagen hören, dass die Einführung des Menschenrechtsgedankens auf dem Schlachtfeld die Soldaten zögern lassen würde, bevor sie töten und damit ihr eigenes Leben in Gefahr bringen. Ich erfuhr, dass Soldaten gesagt bekommen müssen, wen sie aufgrund ihres Kombattantenstatus oder ihrer direkten Beteiligung an Kriegshandlungen ins Visier nehmen sollen, und dass sie nicht aufgefordert werden sollten, darüber nachzudenken, was notwendig, verhältnismäßig, willkürlich, zumutbar, ungerechtfertigt oder unangemessen ist.  

Sogar von Seiten der Menschenrechtsgremien selbst kann man ein Zögern spüren. In Anbetracht von angeschuldigten Staaten, die damit argumentieren, dass die Gesetze des Krieges nicht in den Zuständigkeitsbereich des Menschenrechtsgerichtshofs fallen und dass man im Nebel des Krieges keine Fakten finden könne, fürchten solche Gremien, dass Klagen über den Verlust von Leben und die Zerstörung von Eigentum ihre Beschwerdeverfahren überfordern werden. So verfestigt sich allmählich der Gedanke, dass die Menschenrechtsgremien und -gerichtshöfe schlecht dafür gerüstet sind, eine evidenzbasierte Beweislage in kriegsähnlichen Situationen wie den Konflikten zwischen Russland und Georgien sowie zwischen Russland und der Ukraine zu finden. Der Europäische Gerichtshof hat bekanntermassen damit begonnen, den eigenen Zuständigkeitsbereich durch Verweis auf ein neues Konzept zu beschneiden, das als „Chaos-Kontext“ bekannt ist.

Auf der einen Seite könnte man dies lediglich als den Versuch der Staaten ansehen, sich aus der Verantwortung ziehen wollen. Auf der anderen Seite hat der UN-Menschenrechtsrat seine Überwachungsrolle in Kriegszeiten verstärkt und prüft nun regelmässig Berichte über die Menschenrechtssituation im Rahmen bewaffneter Konflikte. Diese Berichte enthalten häufig Einzelheiten über die Verstösse gegen die Genfer Konventionen von 1949 und andere Verletzungen des humanitären Völkerrechts. Die Geschichte des Menschenrechtsrat ist gut dokumentiert, doch es lohnt sich, hier an die wichtigen Schritte zu erinnern, die 1991 unternommenen wurden, als der Schweizer Rechtsprofessor Walter Kälin von der damaligen UN-Menschenrechtskommission ernannt wurde, um „die im besetzten Kuwait durch die Invasions- und Besatzungstruppen des Irak begangenen Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen“. Abgesehen von der Klarstellung, dass die Menschenrechte auch für die Handlungsweise der irakischen Armee ausserhalb der eigenen Landesgrenzen galten, führte der entstandene Bericht auch detailliert die Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht auf und erklärte, dass das Mandat so verstanden werden müsse, dass es „alle Verstösse gegen sämtliche Zusicherungen des Völkerrechts zum Schutz von Menschen in Bezug auf die relevante Situation“ abdecke. Dreissig Jahre später gelingt es DiplomatInnen und anderen zuweilen nicht, sich an diesen Konsens zu erinnern, bei dem es darum ging, dass die UN-Menschenrechtsgremien über Verstösse, die während einer Invasion und Besetzung begangen werden, unbedingt Bericht erstatten müssen.

Erst kürzlich hat der Menschenrechtsrat beschlossen, Untersuchungskommissionen einzurichten, die sich mit bewaffneten Konflikten und den damit einhergehenden Verstössen gegen das Kriegsrecht und mit Kriegsverbrechen befassen sollen. So hat beispielsweise die Kommission für Ukraine das Mandat, „jeden mutmasslichen Verstoss und Missbrauch der Menschenrechte und Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht und damit in Zusammenhang stehende Verbrechen zu untersuchen“. Auf einer langen Liste mit ähnlichen Ländermechanismen stünden Libyen, Sudan, Südsudan, Äthiopien, Libanon, Kolumbien, Sri Lanka, Afghanistan, Myanmar, Jemen – und die aktuelle Kommission zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen und Verstössen gegen das humanitären Völkerrecht in „den besetzten palästinensischen Gebieten, einschliesslich Ost-Jerusalems, und in Israel“. 2023 schien es undenkbar, dass skrupellose Gewalt, Zerstörung, massive Mobilmachungen und Bombardierungen im Rahmen von Kriegen wie denen in der Ukraine und im Gaza-Streifen keine eingehende Untersuchung durch die UN-Menschenrechtsmaschinerie nach sich ziehen würden. 

Doch wenn es um die von Hugo Slim dargestellten speziellen Herausforderung geht, nämlich die globalen wirtschaftlichen Auswirkungen von Sanktionen und Blockaden, steckt diese Denkweise noch in den Kinderschuhen. Untersuchungskommissionen neigen dazu, sich auf die Fakten rund um unmittelbare Gewalttaten zu konzentrieren und weniger auf die Strukturen im internationalen Recht und in den internationalen Beziehungen, die sich ändern müssen, damit gewährleistet wird, dass Krieg nicht, wie er es ausdrückt: „die Rechte der Menschen auf Leben, Nahrung, Gesundheit, Bildung und ihr Recht, einen Lebensunterhalt zu bestreiten, verletzten”.  

Wir sollten uns vielmehr fragen, ob Kriegsführungsmethoden wie Belagerungen und Blockaden im 21. Jahrhundert überhaupt noch zulässig sind.

Ich würde sogar behaupten, dass es nicht reicht, sich einfach nur Gedanken über die Wahrung der Verhältnismässigkeit bei den eingesetzten Methoden wie Blockaden und Belagerungen zu machen. Wir sollten uns vielmehr fragen, ob Kriegsführungsmethoden wie Belagerungen und Blockaden im 21. Jahrhundert überhaupt noch zulässig sind. Wie können wir eine Kriegsmethode gutheissen, bei der Menschen durch Aushungern zur Unterwerfung gezwungen werden, wenn wir uns doch alle einig sind, dass Folter im Rahmen der Menschenrechte nicht mehr akzeptabel ist? Warum denken wir über eine humanitäre Möglichkeit zur Verhängung einer Belagerung nach – wenn es die Einrichtung einer kriegerischen Belagerung in der modernen Welt gar nicht mehr geben sollte? Wir verschwenden heute doch auch keine Zeit mehr darauf, uns zu überlegen, wie man gewährleisten kann, dass Sklaverei unter humanen Bedingungen ausgeübt wird. 

Wenn wir ganz allgemein über Menschenrechte in Kriegszeiten nachdenken, dann fühlen wir uns recht wohl mit dem Gedanken, dass Personen den Militärdienst verweigern dürfen sollten, wenn sie Gewalt jeglicher Art aus Gewissensgründen ablehnen. Es scheint jedoch weniger Einigkeit darüber zu herrschen, dass es Personen auch möglich sein sollte, die Teilnahme an bestimmten ungerechtfertigten Kriegen zu verweigern, in den Genuss einer sogenannten „selektiven“ Ablehnung aus Gewissensgründen zu kommen oder Zuflucht vor Strafverfolgung erhalten sollten. 

Auch sollte man sich Gedanken über die unzureichende Beachtung der Regeln zur Weitergabe von Waffen machen, die für Menschenrechtsverletzungen verwendet werden könnten, über die schreckliche Wirkungsweise bestimmter Waffen sowie über die Auswirkungen auf das Recht auf Gesundheit und Bildung, wenn Schulen und Krankenhäuser zerstört werden. Diese Themen sollten nicht Silo-Bereichen, die sich mit Abrüstung und Waffenhandel befassen, oder den UN-Sonderorganisationen übertragen werden. Die in Genf ansässige Menschenrechtsmaschinerie sollte ihre Verpflichtung zum Menschenrechtsethos bekräftigen (im Sinne einer ernsthaften Sorge um die Menschenwürde). Von Seiten der PolitikerInnen und DiplomatInnen wird viel über Grundrechte geredet: das Recht auf Selbstverteidigung, das Recht, Grenzen zu schützen, das Recht, terroristische Vereinigungen zu zerschlagen, und das Recht, eine „Lebensweise“ zu schützen. Doch bei diesen Forderungen müssen auch die Menschenrechte der Bevölkerung mitberücksichtigt werden. Meiner Ansicht nach gehen die Menschenrechte unter, wenn sich die Gespräche um globale Sicherheit, humanitäre Katastrophen und Krieg drehen.

Die Zeit ist reif für eine ernsthafte Diskussion über die Herausforderungen, die ein Krieg für die Wahrung der Menschenrechte darstellt. Wir müssen über eine „Agenda zum Schutz der Menschenrechte im Krieg“ nachdenken.

Es wurde schon oft darüber gesprochen, dass der Menschenrechtsgedanke auch mit in die Welten des Handels, der Investitionen, der digitalen Technologie, des geistigen Eigentums, der Gesundheit und des Umweltschutzes eingebracht werden muss. In Genf finden viele Zusammenkünfte unter dem Motto „Menschenrechte und...“ statt. Was ich hier betonen möchte, ist, dass die Zeit reif ist für eine ernsthafte Diskussion über die Herausforderungen, die ein Krieg für die Wahrung der Menschenrechte darstellt. Lange Rede, kurzer Sinn: Wir müssen über eine „Agenda zum Schutz der Menschenrechte im Krieg“ nachdenken. Der erste Punkt auf der Agenda lautet: das Menschenrecht auf Frieden.    


Über den Autor

Andrew Clapham ist Professor für Völkerrecht am Geneva Graduate Institute und ehemaliger Leiter der Genfer Akademie für humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte. Er ist Autor des Buches War (Oxford University Press, 2021).

Disclaimer
Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Meinungen sind die der Autoren. Sie geben nicht vor, die Meinungen oder Ansichten des Geneva Policy Outlook oder seiner Partnerorganisationen wiederzugeben.