GPO 2023

Klimamigration im Jahr 2023: Den Worten Taten folgen lassen

Die akuten globalen Herausforderung der Ernährungsunsicherheit ruft nach einer effizienteren, integrativeren, widerstandsfähigeren und nachhaltigeren Agrar- und Lebensmittelsystem. Das internationale Genf könnte dabei eine Schlüsselrolle spielen.

Geneva Policy Outlook
30. Januar 2023
7 Minuten lesen
Foto von YODA Adaman / Unsplash

Manuel Marques Pereira und Ileana Sinziana Puscas

Migration aufgrund von Umwelteinflüssen ist kein neues Phänomen. Die Menschen sind immer umhergezogen, um zu überleben oder auf der Suche nach grünerem Gras und alternativen Erwerbsquellen. Im Jahr 1755 wurde die mittelalterliche Stadt Lissabon von einem Erdbeben und darauffolgenden Tsunami in Schutt und Asche gelegt. Schätzungsweise 85% der Gebäude wurden zerstört und Tausende Menschen mussten in notdürftigen Unterkünften aus Segeltuch und Holz untergebracht werden. Dieses Ereignis löste in ganz Europa und in Portugal eine Auseinandersetzung zwischen Wissenschaft und Kirche über die Ursachen der Katastrophe und die zur Verhinderung künftiger Katastrophen erforderlichen Massnahmen aus. Unvergessen ist auch das Beispiel des Pastoralismus in Afrika. Seit der Domestizierung des Viehs vor Tausenden von Jahren ziehen die Menschen auf der Suche nach grüneren Weiden umher. Diese saisonalen Wanderbewegungen ändern sich, da die Viehzüchter heute aufgrund des sich ändernden Klimas bereits viel früher von Norden nach Süden ziehen müssen. Weiter beeinträchtigt wird die Dynamik (Ausmass und Muster) dieser Bewegungen aufgrund nationaler Grenzen und der Privatisierung von Land.

Neu an der umweltbedingten Migration aufgrund von Umwelteinflüssen ist die politische Aufmerksamkeit, die dieses Thema seit Mitte der 2000er Jahre erhält. Die zunehmend negativen Auswirkungen des Klimawandels setzten das Thema Umwelt auf die globale Agenda, wobei weltweit führende PolitikerInnen jedes Jahr verbindliche Vereinbarungen im Rahmen des UN-Rahmenübereinkommens über Klimaänderungen aushandeln (UNFCCC). Diese gipfelten 2015 in der Verabschiedung des Pariser Abkommens, einem historischen Schritt zur Dekarbonisierung und dem ersten Klimaabkommen, das die Menschenrechte von MigrantInnen anerkennt. Gleichzeitig machte die Migrationskrise im Mittelmeerraum im Jahr 2015 die Bedeutung einer sicheren, geordneten und regulären internationalen Migration deutlich. Dies führte zur Aushandlung und der Verabschiedung des ersten globalen Migrationsabkommens überhaupt, des Global Compact for Migration (GCM) von 2018, in dem vor allem die Umwelt als treibende Kraft der Migration anerkannt wird.

Zwischen 2008 und 2018 werden durchschnittlich 24 Millionen Binnenvertreibungen im Zusammenhang mit Katastrophen stattgefunden. Allein im Jahr 2021, 23,7 Millionen Menschen aufgrund von Katastrophen vertrieben werden. Prognosen für das Jahr 2050 zeigen, dass etwa 216 Millionen Menschen zu internen Klimamigranten werden könnten, wenn wir keine entschlossenen Klimaschutzmaßnahmen ergreifen.

Die umweltbedingte Migration erhielt auch deshalb mehr Aufmerksamkeit, weil die Zukunftsprognosen im Vergleich zu den Schätzungen der gegenwärtigen Bewegungen ein ungewöhnliches Ausmass und Muster der umweltbedingten Migration zeigen. Insbesondere die Binnenmigration erreicht in aktuellen und zukünftigen Szenarien Höchstwerte. Zwischen 2008 und 2018 gab es durchschnittlich 24 Millionen Binnenvertreibungen im Zusammenhang mit Katastrophen. Allein im Jahr 2021 wurden 23,7 Millionen Menschen infolge von Katastrophen innerhalb ihres Landes vertrieben. Prognosen für das Jahr 2050 zeigen, dass etwa 216 Millionen Menschen aufgrund des Klimas zu BinnenmigrantInnen werden könnten, wenn wir keine massgeblichen Klimaschutzmassnahmen ergreifen.

Diese Zahlen sind zwar neu, Hinweise darauf gibt es aber bereits seit geraumer Zeit. Der erste Bericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen (IPCC) aus dem Jahr 1990 zeigte bereits (und bestätigt das in seinem Bericht 2022), dass der Klimawandel einen Multiplikationseffekt hat. Der Klimawandel verschärft und erhöht die Häufigkeit von Naturgefahren, was sich auf die Migrationsmuster auswirkt und die sozio-ökonomische Vulnerabilität und Lücken in der Regierungsführung verstärkt.

In den kommenden Jahren werden die Zusammenhänge zwischen Migration und Umwelt immer mehr Beachtung finden, zum Teil aufgrund der zunehmenden Sichtbarkeit der verheerenden Auswirkungen des Klimawandels durch neue Medieninstrumente und -kanäle, aber auch, weil der Klimawandel immer häufiger mit Sicherheitsbelangen verknüpft ist, einem Thema, das auf vielen nationalen Agenden steht. Eine weitere Facette ist das gestiegene Bewusstsein der Öffentlichkeit und die Forderung an die PolitikerInnen, umweltbedingte Migration in nationalen, regionalen und internationalen Agenden zu verankern.

2022 war die umweltbedingte Migration ein zentrales Thema. Regierungen, die Vereinten Nationen und die Zivilgesellschaft beschäftigten sich 2022 in allen wichtigen politischen Gremien und bei den zahlreichen Katastrophen, zu denen es im Laufe des Jahres kam, mit dem Thema umweltbedingte Migration. Ausserordentlich grosse Katastrophen wie die Dürre und Hungersnot am Horn von Afrika, die Überschwemmungen in Pakistan und die Wirbelstürme in Bangladesch und auf den Philippinen führten zur Flucht von Millionen von Menschen. Das Jahr endete auch mit Bildern von Menschen, die durch den tödlichen Schneesturm in Nordamerika ihr Leben verloren oder in ihren Häusern eingeschlossen wurden.

Auf politischer Ebene wurden im Jahr 2022 fünf wichtige Meilensteine im Bereich der umweltbedingten Migration erreicht. Erstens anerkannten die Staaten auf dem Weltwasserforum im März in Dakar (Senegal), dass die Wasserentwicklung in ländlichen Gebieten verbessert werden muss, um die Lebensgrundlagen zu sichern und die irreguläre Migration einzudämmen. Zweitens wurde an der Vertragsstaatenkonferenz (COP15) des UN-Übereinkommens zur Bekämpfung der Wüstenbildung (UNCCD) vom 15. Mai in Abidjan (Elfenbeinküste) die Wüstenbildung erneut als Ursache der zwangsweisen Migration anerkannt und beschlossen, die Ursachen der Migration durch eine nachhaltige Landbewirtschaftung, die Wiederherstellung von Land sowie die Schaffung von grünen Arbeitsplätzen und Existenzgrundlagen für gefährdete Bevölkerungsgruppen anzugehen. Drittens empfahl die Global Platform for Disaster Risk Reduction (GP22/GPDRR), das Forum zur Überwachung der Umsetzung des Sendai-Rahmens, im Mai, das Vertreibungsrisiko anzusprechen und in die Politik und Strategien zur Katastrophenvorsorge einzubeziehen. Viertens forderten die Staaten im Mai auf dem International Migration Review Forum (IMRF), dem Forum zur Bewertung der Fortschritte beim GCM, in New York (USA), mehr reguläre Migrationsrouten im Kontext von Katastrophen, Klimawandel und Umweltzerstörung. Schliesslich, und vielleicht am wichtigsten, fasste die Vertragsstaatenkonferenz (COP27) des UNFCCC am 27. November in Sharm el-Sheikh (Ägypten) Beschlüsse in mehreren migrationsrelevanten Bereichen (Umsetzung, Verluste und Schäden, Anpassung, Finanzierung). Das Thema Migration fand insbesondere auch Beachtung in der Entscheidung, neue Finanzierungsvereinbarungen (einschliesslich eines Fonds zur Bewältigung von Verlusten und Schäden im Zusammenhang mit dem Klimawandel) einzurichten. Dadurch gibt es möglicherweise mehr Klimafinanzierung für Migrationslösungen.

Diese Meilensteine sind wichtig, da sie eine Palette von Lösungen für die umweltbedingte Migration bieten, die sich aus globalen politischen und verbindlichen Verpflichtungen ergeben, die auf lokaler, nationaler und regionaler Ebene umgesetzt werden müssen. Darüber hinaus wurde bei den Entscheidungen die Bedeutung mehrerer übergreifender Trends deutlich, darunter die Berücksichtigung der Stadt-Land-Dynamik, der Einsatz naturorientierter Lösungen, die Bedeutung der Zusammenarbeit mit MigrantInnen und die Schlüsselrolle von Frauen und jungen Menschen bei der Suche nach umfassenden Lösungen. Diese fünf Errungenschaften wurden auf der 113. Tagung des Rates der Internationalen Organisation für Migration (IOM) im Dezember 2022 in Genf zusammengeführt, die ihr jährliches High-Level-Segment den Überschneidungen zwischen Klimawandel, Ernährungssicherheit, Migration und Vertreibung widmete. Auf diesem Forum verknüpften die Staaten die fünf wichtigsten Meilensteine des Jahres 2022 zum Thema Migration und Umwelt miteinander und gaben eine einheitliche politische Erklärung zu diesem Thema ab, was wir schon seit vielen Jahren als notwendig erachten. Dieser Konsens kann als ein erstes Anzeichen für eine Institutionalisierung des Themas der umweltbedingten Migration gewertet werden.

2023 könnte die Agenda zur umweltbedingten Migration endlich institutionalisiert werden.

Damit kann die umweltbedingte Migration zu einem dauerhaften Bestandteil der politischen Arbeit werden. Dies könnte durch Aufstockung der personellen und finanziellen Ressourcen, die Schaffung ministerien-übergreifender Mechanismen zur Erarbeitung von Lösungen, die Aufnahme des Themas in die ständige Tagesordnung regionaler politischer Gremien oder in politischen Erklärungen und programmatische Verpflichtungen zur Bekämpfung der umweltbedingten Migration geschehen.

Der Institutionalisierungsprozess könnte auch dazu führen, dass mehr Massnahmen zur umweltbedingten Migration ergriffen werden, sei es freiwillig oder notgedrungen. Diese Massnahmen zielen in der Regel auf eine oder mehrere der folgenden drei Arten von Lösungen ab: i) Lösungen für Menschen, die bleiben wollen und für die Migration nur eine Wahlmöglichkeit ist. Dazu gehört insbesondere der Aufbau von Resilienz gegenüber Naturgefahren und der Bewältigung der negativen klimatischen und umweltbedingten Faktoren, die Menschen zur Migration zwingen; ii) Lösungen für Menschen, die bereits unfreiwillig unterwegs sind, um sie im Kontext von Klimawandel, Umweltdegradation und Katastrophen zu unterstützen und zu schützen; und iii) Lösungen für Menschen, die freiwillig migrieren wollen, damit ihre Migration im Kontext von Klimawandel, Umweltdegradation und Katastrophen gesteuert werden kann. Diese Lösungen können von den Staaten und anderen relevanten AkteurInnen in institutionelle Mehrjahresprogramme und Arbeitsabläufe inkludiert werden. Bis dato hinkt dieser Schritt jedoch den politischen Verpflichtungen hinterher.

Aufgrund der zunehmenden Finanzierung und dem verstärkten politischen Bewusstsein gewannen diese Lösungen an Dynamik für eine Umsetzung im Jahr 2023.

Die Finanzierung von Klima-, Entwicklungs- und humanitärer Hilfe wird zunehmend mit der umweltbedingten Migration verknüpft, wobei die Länder u. a. Beiträge zum GCM-Fonds leisten und Zusagen für Verluste und Schäden machen. Vor allem der Klimagipfel des UN-Generalsekretärs im September 2023 in New York (USA) und die Einrichtung der Finanzierungsvereinbarung zu Schäden und Verlusten (über die 2023 verhandelt wird) könnten das Blatt in Bezug auf Ressourcen und politischen Willen für die Entwicklung von Umweltmigrationspolitik und -massnahmen wenden.

Politisches Bewusstsein und Anstrengungen bei der umweltbedingten Migration erreichten letztes Jahr einen Höchststand und werden auch auf das Jahr 2023 Auswirkungen haben. Die Ministererklärung von Kampala aus dem Jahr 2022, in der die Prioritäten Ostafrikas in den Bereichen Migration, Umwelt und Klimawandel zusammengefasst werden, wird im Jahr 2023 im Hinblick auf die COP28 beschleunigt umgesetzt werden. Das EU-Arbeitspapier, das die Vorgehensweise der Region bei Vertreibungen ins Ausland aufgrund von Katastrophen festlegt, wird im Rahmen der Genfer Plattform für Vertreibung aufgrund von Katastrophen Anwendung finden, bei der die EU 2023 den Vorsitz führen wird. Das 2022 entworfene Pacific Climate Mobility Framework wird 2023 im Pacific Islands Forum (PIF) offiziell verabschiedet und ist wegweisend für die Umsetzung von Lösungen. Das neue argentinische Migrationsgesetz, das UmweltmigrantInnen die Einreise und den Aufenthalt in Argentinien ermöglichen könnte, könnte angesichts der argentinischen Präsidentschaft im Jahr 2023 einen ähnlichen Ansatz im gesamten MERCOSUR beeinflussen.

Die Beschleunigung der Maßnahmen wird durch die immer stärker werdenden negativen Auswirkungen des Klimawandels und eine gesellschaftlich bedingte "Gewissensprüfung" auf politischer Ebene hinsichtlich der Notwendigkeit einer sicheren, regelmäßigen und geordneten Migration vorangetrieben.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die umweltbedingte Migration zwar ein historisches Phänomen ist, dass aber kontinuierlich neue Wege und Mittel zu deren Bewältigung vorgelegt werden. Die Entwicklung und Umsetzung von Massnahmen wird von den zunehmenden negativen Auswirkungen des Klimawandels und unter dem Druck der Zivilgesellschaft auf PolitikerInnen, sich der Notwendigkeit einer sicheren, regelmässigen und geordneten Migration anzunehmen, angetrieben. Es sollte weiterhin in die Kohärenz der Politik und die Systematisierung von Initiativen zur umweltbedingten Migration investiert werden. Stakeholder in Genf könnten die Genfer Foren ebenfalls für diese Ziele nutzen. Zu den Möglichkeiten gehören die jährlichen Resolutionen zum Thema Menschenrechte und Klimawandel im Menschenrechtsrat (HRC), die regelmässigen IPCC-Treffen in der Schweiz, die Vorbereitungsarbeiten für das Globale Forum für Migration und Entwicklung (GFMD) im Jahr 2024, der IOM-Rat und das Globale Flüchtlingsforum (GRF).


Über die Autoren

Manuel Marques Pereira ist Leiter der Abteilung Migration, Umwelt, Klimawandel und Risikominderung der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Er ist ein Experte mit mehr als 15 Jahren operativer Erfahrung in einigen der grössten Migrationskrisen der Welt, darunter auch in der jüngsten Rohingya-Krise.

Ileana Sinziana Puscas ist eine thematische Spezialistin zu Migration, Umwelt, Klimawandel und Risikominderung der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Sie ist Politexpertin und verfügt über mehr als 7 Jahre Erfahrung in der Migrations-, Umwelt- und Klimapolitik und -programmarbeit.


Disclaimer

Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Meinungen sind die der Autoren. Sie geben nicht vor, die Meinungen oder Ansichten des Geneva Policy Outlook oder seiner Partnerorganisationen wiederzugeben.