GPO 2023

Agrar- und Lebensmittelsysteme Korn für Korn verändern

Die akuten globalen Herausforderung der Ernährungsunsicherheit ruft nach einer effizienteren, integrativeren, widerstandsfähigeren und nachhaltigeren Agrar- und Lebensmittelsystem. Das internationale Genf könnte dabei eine Schlüsselrolle spielen.

Geneva Policy Outlook
30. Januar 2023
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Foto von Steven Weeks / Unsplash

Dominique Burgeon

Der Hunger nimmt überall auf der Welt zu und verschärft sich durch das Zusammenspiel verschiedener globaler und lokaler Schocks. Seit dem Beginn von COVID-19 wurden Lebensmittel kontinuierlich teurer. Bereits vor dem Krieg in der Ukraine, der das System weiter erschütterte, waren internationale Lebensmittelpreise so stark gestiegen wie seit 10 Jahren nicht mehr. Hauptsächlich aufgrund des Klimawandels trafen 2022 extreme Wetterereignisse viele Regionen schwer. Zusammen mit den bereits bestehenden Gefährdungen und Schocks brachte dies viele Menschen an den Rand ihrer Existenz.

Das Globales Netzwerk gegen Ernährungskrisen schätzte, dass Ende 2022 222 Millionen Menschen in 53 Ländern/Gebieten von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen waren, d. h., dass die Menschen nicht in der Lage waren, sich ausreichend zu ernähren, was ihr Leben und ihre Existenzgrundlage unmittelbar gefährdete.

Gemäss dem neuesten State of Food Security and Nutrition in the Worlditten weltweit mehr als 800 Millionen Menschen an Hunger. Das Global Network against Food Crises schätzte, dass Ende 2022 222 Millionen Menschen in 53 Ländern/Gebieten von akuter Ernährungsunsicherheit bedroht waren. Diese Menschen hatten nicht ausreichend zu Essen, wodurch sie in ihrem Leben und ihren Lebensgrundlagen bedroht waren. Aktuellen Hochrechnungen zufolge könnten im Jahr 2030 immer noch mehr als 670 Millionen Menschen an Hunger leiden - weit entfernt von dem Ziel, das die Vereinten Nationen im Rahmen der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) im Jahr 2015 festgelegt haben: Kein Hunger.

Auch wenn bedeutende Fortschritte bei der Bekämpfung des Hungers gemacht wurden, gibt es für Regierungen und Organisationen weiterhin Hürden bei der Erreichung unseres Ziels einer ernährungssicheren Zukunft. Denn für Hunger und Ernährungsunsicherheit gibt es keine Einheitslösungen; sie erfordern eine Vielzahl von Ansätzen und müssen von verschiedenen Seiten angegangen werden.

Die Integration von humanitären, entwicklungspolitischen und friedensfördernden Massnahmen in von Konflikten betroffenen Gebieten scheint der Schlüssel zu sein, da die meisten der von Ernährungsunsicherheit bedrohten Menschen in Ländern leben, die von Konflikten betroffen sind. In Sana'a, der Hauptstadt Yemens, beispielsweise führte der Ausfall einer grossen Kläranlage zu einem Choleraausbruch und einer Verknappung von frischem Gemüse. Das führte nicht nur bei der Ernährungssicherheit zu Herausforderungen, sondern auch bei der Friedensförderung. Als ein Lösungsansatz wurden auf 60 Hektaren wassersparende Tropfirrigationssysteme in der Region installiert, um die wesentlichsten Treiber von Ernährungsunsicherheit, Unterernährung und Konflikten zu bekämpfen.

Die Resilienz bei Agrar- und Lebensmittelsystemen zu verbessern kann dabei helfen, eine klimapositive Zukunft zu erreichen, in der Menschen und die Natur miteinander leben und wachsen können. Die Art, wie wir Lebensmittel produzieren und unsere natürlichen Ressourcen nutzen, ist nicht nur deshalb wichtig, weil die Agrar- und Lebensmittelsysteme von Umweltschäden und Klimaereignissen betroffen sind, sondern auch, weil sie sich auf den Zustand der Umwelt auswirken und eine wichtige Triebkraft für den Klimawandel sind. Die Einführung einer landwirtschaftlichen Versicherung für gefährdete Haushalte in Sambia stärkte die Widerstandsfähigkeit gegenüber dem Klimawandel, verringerte die Armut und verbesserte die Ernährungssicherheit und die Ernährung.

Die Stärkung der Widerstandsfähigkeit der am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen durch sozialen Schutz ist entscheidend für die Bewahrung der Existenzgrundlagen. Insbesondere COVID-19 und die damit verbundenen Einschränkungen machten deutlich, wie wichtig Sozialhilfe-, Beschäftigungs- und Sozialversicherungsprogramme sind. Bis Mai 2021 hatten weltweit mehr als 200 Länder/Gebiete mindestens eine Initiative zur sozialen Sicherung umgesetzt, die zumeist aus Geld- und Sachleistungen sowie aus der Aufhebung oder dem Aufschub finanzieller Verpflichtungen bestand. In Äthiopien ermöglichte ein innovatives Programm den digitalen Zugang zu monatlichen, von der Haushaltsgrösse abhängigen Lebensmittelgutscheinen, deren Höhe sich an den Kosten für eine nahrhafte Ernährung orientierte. Diese Massnahme steigerte die Gewinne der ländlichen LebensmitteleinzelhändlerInnen um bis zu 40% und verkürzte die Lebensmittelversorgungsketten, was sich auch positiv auf die Ernährungsvielfalt von Müttern und ihren Kindern auswirkte.

Damit sichere und nahrhafte Lebensmittel einfacher erhältlich sind und deren Kosten sinken, werden Massnahmen entlang der Nahrungsmittelversorgungsketten benötigt. So wurden beispielsweise die Anreicherung und Biofortifikation als kosteneffiziente Massnahmen zur Verringerung des Mikronährstoffmangels eingesetzt. Damit wurden gleichzeitig die Verfügbarkeit von nahrhaften Lebensmitteln erhöht und ihre Kosten gesenkt. In Peru wurde die Anreicherung von Reis mit neun Vitaminen und Mineralien ausgeweitet und in das Ernährungsprogramm an Schulen und andere Programme zur sozialen Sicherung aufgenommen. 2021 wurde es auch gesetzlich zugelassen.

Aufgrund der anhaltend hohen Ungleichheit können die Menschen Ernährungsunsicherheit und Unterernährung in all ihren Formen nur schwer überwinden. Die Bekämpfung von Armut und struktureller Ungleichheiten sowie die Gewährleistung, dass die Massnahmen tatsächlich den Armen zugutekommen und sie einbeziehen, sind von zentraler Bedeutung. So verringerte Vietnam beispielsweise wegen der schwankenden Kaffeepreise die Anfälligkeit der KleinbauerInnen für wirtschaftliche und klimabedingte Schocks durch die Einrichtung von Kaffeeverbänden auf Provinz- und Bezirksebene. Damit kann der Kaffee für einen Aufschlag auf die Produzentenpreise zertifiziert und die Widerstandsfähigkeit von kleinen KaffeeproduzentInnen gegen klimatische und wirtschaftliche Einflüsse gestärkt werden.

Der Zugang zu nahrhaften Lebensmitteln und gesunder Ernährung ist nicht nur eine Frage der Kosten und der Erschwinglichkeit. Da für stark verarbeitete Lebensmittel viel Werbung gemacht wird und sie vermehrt verfügbar sind, hat der Konsum von ungesunden Lebensmitteln in allen Altersgruppen zugenommen. Je nach den spezifischen Gegebenheiten des Landes und den vorherrschenden Verbrauchsmustern sind daher politische Massnahmen, Gesetze und Investitionen erforderlich, um bessere Bedingungen für eine gesunde Lebensmittelproduktion zu schaffen und KonsumentInnen zu befähigen. Dadurch könnten sie nahrhafte, gesunde und sichere Essgewohnheiten annehmen, die die Umwelt weniger belasten.

Angesichts des sektorübergreifenden Charakters der für den Wandel erforderlichen Maßnahmen kann das internationale Genf - wo viele wichtige Akteure in den Bereichen humanitäre Hilfe, Gesundheit, Handel, Sozialschutz und Umwelt tätig sind - als Katalysator für den Wandel dienen.

Diese verschiedenen Gesichtspunkte führen zu einem gemeinsamen roten Faden: die Entwicklung hin zu effizienteren, integrativeren, widerstandsfähigeren und nachhaltigeren Agrar- und Lebensmittelsystemen, die zu einer besseren Produktion und Ernährung, einer besseren Umwelt und einem besseren Leben für alle führen. Da die für diese Entwicklung erforderlichen Massnahmen sektorenübergreifend sein müssen, kann das internationale Genf, wo viele wichtige AkteurInnen in den Bereichen humanitäre Hilfe, Gesundheit, Handel, Sozialschutz und Umwelt tätig sind, als Katalysator für den Wandel dienen.

Die in Genf ansässigen AkteurInnen haben innerhalb und ausserhalb des Agrar- und Lebensmittelsystems eng zusammengearbeitet, um die Ernährung und die Lebensmittelsicherheit im Hinblick auf das gemeinsame Ziel „Kein Hunger“ zu verbessern. Zu den aktiven AkteurInnen gehören die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC), die Internationale Organisation für Migration (IOM), die Internationale Fernmeldeunion (ITU), das Büro der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA), die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD), der Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR), die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Welthandelsorganisation (WTO) sowie zahlreiche NGOs und akademische Einrichtungen, Think Tanks und Forschungsinstitute.

Auf der 12. WTO-Ministerkonferenz im Jahr 2022 verabschiedeten die Mitglieder die Ministererklärung über Notfallmassnahmen bei Ernährungsunsicherheit, in der die Rolle des Handels und der einheimischen Produktion bei der Bewältigung der Ernährungssicherheit hervorgehoben wird. Im Anschluss an die Ministerkonferenz wurde auch ein spezielles Arbeitsprogramm für die Ernährungssicherheit der am wenigsten entwickelten Länder und der Entwicklungsländer, die Nettoimporteure von Nahrungsmitteln sind, aufgestellt.

Als globales Zentrum für den Multilateralismus ist das internationale Genf in einzigartiger Weise geeignet, den sektorübergreifenden Ansatz und die erhöhte politische Aufmerksamkeit voranzutreiben, die zur Beseitigung von Armut, Hunger und Unterernährung erforderlich sind. In Anbetracht des immensen Potenzials der Stadt hat sich die FAO verpflichtet, mit der Genfer Gemeinschaft zusammenzuarbeiten und gemeinsame Bemühungen zu entwickeln. Mit dem Beginn des neuen Jahres erwarten wir ein Jahr der Spitzenleistungen, mit vielen Veranstaltungen in Genf, wie den Genfer FAO-Dialogen, den Wochen der humanitären Netzwerke und Partnerschaften und dem ECOSOC-Segment für humanitäre Angelegenheiten. Insgesamt werden diese AkteurInnen und Veranstaltungen eine entscheidende Rolle dabei spielen, die Ernährungssicherheit in den Vordergrund der globalen Agenda zu rücken - ein charakteristischer und vielversprechender Beitrag, den das internationale Genf zum Aufbau einer Welt leisten kann, in der kein Kind und keine Familie hungrig zu Bett gehen muss.


Über den Autor

Dominique Burgeon ist Direktor des FAO Liaison Office in Genf.


Disclaimer

Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Meinungen sind die der Autoren. Sie geben nicht vor, die Meinungen oder Ansichten des Geneva Policy Outlook oder seiner Partnerorganisationen wiederzugeben.