GPO 2023

Ökumenische Friedensförderung: Kollision oder Konvergenz in der Ukraine?

Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist ein Beispiel für das Aufeinandertreffen grundverschiedener Wertesysteme, ethischer Rahmen und historischer Erzählungen. Wo können wir also gemeinsame Interessen finden? Die ökumenische Friedensförderung könnte uns den Weg weisen.

Geneva Policy Outlook
30. Januar 2023
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Foto von Levi Meir Clancy / Unsplash

Peter Prove

Die Schwarzmeer-Getreide-Initiative bewies, „wie wichtig besonnene Diplomatie bei der Suche nach multilateralen Lösungen ist”. Sie wurde als Reaktion auf die weltweit in die Höhe schiessenden Lebensmittelpreise und die gestiegene Gefahr einer Hungersnot ausgehandelt, von der Länder auf der ganzen Welt durch die unterbrochenen Exporte von Weizen, anderen Grundnahrungsmitteln und Düngemitteln nach dem Einmarsch Russland in die Ukraine bedroht sind. Dank diesem Abkommen wurden bis zum 17. November 2022 rund 11 Millionen Tonnen Getreide und andere Lebensmittel aus der Ukraine exportiert, was entscheidend zu einer Stabilisierung der weltweiten Lebensmittelpreise beitrug.

Berichten zufolge hatte Richard Wilcox vom Centre for Humanitarian Dialogue in einem Konzeptpapier, das als Hauptgrundlage für die Initiative diente, geschrieben: „Unabhängig vom Verlauf des Krieges, könnte eine aktive Mediationsdiplomatie die Interessen der AkteurInnen miteinander in Einklang bringen.“ „Die Ukraine“, so schrieb er, „würde von den Exporteinnahmen profitieren. Russland könnte seine Interessen mit Schlüsselländern in Afrika und dem Nahen Osten schützen und die Wahrnehmung seiner Rolle umgrenzen. Russische Weizenexporte, die, obwohl sie keinen Sanktionen unterliegen, von den Händlern gemieden werden, könnten ebenfalls in das Abkommenaufgenommen werden.“

Trotz einer kurzzeitigen Aussetzung gegen Ende Oktober 2022 veranschaulicht der Erfolg dieser Initiative, dass es machbar ist, selbst mitten in einer seit über einer Generation nicht mehr dagewesenen Art von Konflikt, Auseinandersetzung und Spaltung, eine Vereinbarung aufgrund von gegenseitigen Interessen und zum Nutzen aller zu erzielen - durch Dialog. In einem Kontext, in dem es kaum andere Anzeichen für einen möglichen Kompromiss gibt, weckt das Hoffnungen.

Wo könnten in einem Konflikt, in dem offensichtlich grundlegend unterschiedliche Wertesysteme, ethische Rahmen und Geschichtsauffassungen im Spiel sind, gemeinsame Werte, Interessen und Identitäten zu finden sein, und welche Akteure könnten in der Lage sein, eine Brücke über die Kluft zu schlagen?

Was kann 2023 in Zeiten von Krieg noch alles durch Gespräche erreicht werden? Wo können in einem Konflikt, in dem grundlegend unterschiedliche Wertesysteme, ethische Rahmenkonzepte und historische Narrative im Spiel sind, gemeinsame Werte, Interessen und Identitäten gefunden werden, und welche AkteurInnen können dazu beitragen, die Kluft zu überbrücken?

Seit der russischen Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 wird auf den Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) viel Druck ausgeübt, damit er die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) – die dem ÖRK 1961 beitrat – von der ÖRK-Mitgliedergemeinschaft ausschliesst. Diese Forderungen wurden vor allem durch Aussagen des ROK-Patriarchen Kyrill ausgelöst, die auf breiter Ebene als offene Unterstützung und Rechtfertigung von Präsident Putins „Sondermilitäreinsatz“ interpretiert werden. Obwohl es in der Geschichte des ÖRK äusserst selten zu einer Aussetzung der Mitgliedschaft kam, drückte die breitere Anhängerschaft des ÖRK ihre Empfindungen zu diesem Thema in einer Mitteilung aus, die ein am 10. Juni 2022 vom ÖRK einberufener ökumenischer runder Tisch zur Ukraine-Krise herausgegeben hat:

„...lehnen wir die offensichtliche Instrumentalisierung der religiösen Sprache durch politische und kirchliche Führungspersonen zur Rechtfertigung eines bewaffneten Einmarsches in einen anderen souveränen Staat nachdrücklich ab. In unseren Augen widerspricht das fundamental unserem gemeinsamen Verständnis von den zentralen christlichen und ökumenischen Grundsätzen.“

Die Tatsache, dass die 11. ÖRK-Vollversammlung in der ersten Septemberwoche 2022 in Karlsruhe, Deutschland stattfinden sollte, stellte eine Herausforderung dar. ÖRK-Vollversammlungen werden nur alle acht Jahre einberufen (diese bestimmte Vollversammlung wurde aufgrund der COVID-19-Pandemie für einen längeren Zeitraum aufgeschoben), und alle Mitgliedskirchen sind eingeladen, sich durch Delegationen vertreten zu lassen. Doch unter den herrschenden geopolitischen Umständen rief die Aussicht, dass eine ROK-Delegation an der Vollversammlung teilnehmen würde, nicht nur bei den anderen ÖRK-Mitgliedern ernste Bedenken hervor, sondern auch bei der deutschen Regierung.

Dessen ungeachtet hielt der ÖRK dem Druck nach Ausschluss der ROK stand, und der geschäftsführende ÖRK-Generalsekretär Priester Prof. Dr. Ioan Sauca betonte mehrfach, dass der ÖRK nicht existiere, weil seine Mitglieder einer Meinung seien, sondern gerade, weil sie unterschiedliche Ansichten hätten. Der Hauptzweck des ÖRK bestünde darin, als Podium für den Dialog inmitten von Uneinigkeit zu dienen. Und so war eine 20-köpfige ROK-Delegation in Karlsruhe anwesend, um die spitzen Äusserungen von Präsident Frank-Walter Steinmeier auf der Eröffnungssitzung zu hören:

„Auf einen schlimmen, ja geradezu glaubensfeindlichen, blasphemischen Irrweg führen zurzeit die Führer der Russisch-Orthodoxen Kirche ihre Gläubigen und ihre ganze Kirche (...) Dass [die Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche] hier sind, ist in diesen Zeiten keine Selbstverständlichkeit. Dass ihnen die Wahrheit über diesen brutalen Krieg und Kritik an der Rolle ihrer Kirchenführung nicht erspart bleiben wird, das erwarte ich von dieser Versammlung. (...) Die Führung der Russisch-Orthodoxen Kirche hat sich mit den Verbrechen des Krieges gegen die Ukraine gemein gemacht. Diese als Theologie verbrämte totalitäre Ideologie hat dazu geführt, dass auf dem Gebiet der Ukraine bis jetzt viele religiöse Stätten völlig oder teilweise zerstört worden sind. (...) Kein Christ, der seinen Glauben, seine Vernunft und seine Sinne noch beisammen hat, wird darin Gottes Willen erkennen können.”

Die schlimmsten Befürchtungen der deutschen Regierung, dass die ROK-Delegation das ihnen durch die Teilnahme an der Vollversammlung in Deutschland gebotene Podium zur Verbreitung politischer Propaganda missbrauchen würden, bestätigten sich nicht. Ganz im Gegenteil, die ROK-Delegation verzichtete bewusst drauf, einen Konsens über eine öffentliche Grundsatzerklärung zum Krieg in der Ukraine zu behindern, die unter anderem:

  • diesen „illegalen und nicht zu rechtfertigenden“ Krieg verurteilte;
  • an alle Konfliktbeteiligten appellierte, die Grundsätze des Internationalen Völkerrechts „insbesondere im Hinblick auf den Schutz der Zivilbevölkerung und der zivilen Infrastruktur sowie die menschenwürdige Behandlung von Kriegsgefangenen“ zu respektieren;
  • nachdrücklich bekräftigte, dass „Krieg nicht mit Gottes Natur und seinem Willen für die Menschheit vereinbar ist und gegen unsere grundlegenden christlichen und ökumenischen Prinzipien verstösst“;
  • den „Missbrauch religiöser Sprache und religiöser Autorität zur Rechtfertigung bewaffneter Angriffe und von Hass“ ablehnte; und
  • den Aufruf „an unsere christlichen Schwestern und Brüder und an die Kirchenleitung in Russland wie auch in der Ukraine“ bekräftigte, „ihre Stimmen zu erheben, um gegen die anhaltenden Tötungen, Zerstörung, Vertreibung und Enteignung der Menschen in der Ukraine Stellung zu beziehen“.

Gleichzeitig rief die Erklärung der Vollversammlung „die Regierungen Europas und der gesamten internationalen Gemeinschaft“ zu „viel grösseren Investitionen in die Suche nach und Förderung von Frieden ... anstatt in die Ausweitung von Konfrontation und Teilung“ auf. Die Vollversammlung stellte fest, dass „dem ÖRK eine wichtige Rolle dabei [zukommt], seine Mitgliedskirchen in der Region zu begleiten und eine Plattform und ein sicherer Raum für Begegnung und Dialog zu sein, auf der und in dem die vielen drängenden Fragen angegangen werden können, die sich aus diesem Konflikt für die Welt und die ökumenische Bewegung ergeben.“

Es besteht die Möglichkeit, dass die "ökumenische Friedensarbeit" - bei der die ÖRK-Mitgliedskirchen, die in größere Konfliktsituationen verwickelt sind, in eine Art zwischenkirchlichen "Track 2"-Prozess eingebunden werden - im Jahr 2023 auf der Art des humanitären Dialogs aufbauen könnte, der die Schwarzmeer-Korn-Initiative (mit Schwerpunkt auf den humanitären Folgen von Konflikten) hervorgebracht hat, und eine weitere Dimension hinzufügen könnte, die sich auf einige grundlegende Konfliktfaktoren konzentriert.

Ausgehend von diesen Entwicklungen im Jahr 2022 besteht die Chance, dass die „ökumenische Friedensförderung“ – durch die sich ÖRK-Mitgliedskirchen in einer Art „Track Two“-Verfahren zwischen den Kirchen engagieren – im Jahr 2023 auf jener Art des humanitären Dialogs aufbauen kann. Diese Aktivitäten könnten sich auf die humanitären Folgen des Konflikts konzentrierenden oder auch auf der Schwarzmeer-Getreide-Initiative aufbauen., und auf diese Weise grundlegenden konfliktfördernden Faktoren bearbeiten. . Es gibt einige wichtige Gründe, warum dies der Fall sein könnte.

Religion – und vor allem das orthodoxe Christentum – spielt auch weiterhin eine äusserst einflussreiche Rolle für die Identität und die Weltanschauung der Menschen in der Region. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage des Pew Research Center zeigte, dass 71% der Russen sich als orthodoxe ChristInnen betrachten. Ebenso gehören in der Ukraine schätzungsweise 78% der Bevölkerung dem orthodoxen Christentum an. Doch eine gemeinsame religiöse Identität als Menschen orthodoxen Glaubens bedeutet nicht, dass diese zwangsläufig eine einfache Brücke für den Dialog darstellt. Die Spannungen und Konflikte innerhalb und unter den orthodoxen Kirchen und Gemeinden in der Region brodeln bereits seit mindestens 2014 und weiteten sich nach der Invasion im Februar 2022 massiv aus.

Die Russisch-Orthodoxe Kirche steht an der Spitze des Moskauer Patriarchats, das in der Vergangenheit auch demografische Mehrheiten in der Ukraine und in Belarus sowie in Russland umfasste. Diese Gemeinden finden sich jetzt auf sehr unterschiedlichen Seiten des aktuellen Konflikts.

In Anbetracht der grundlegenden moralischen und Identitäts-Aspekte, die miteinander in Konflikt stehen – oder zumindest angefochten werden – und der Bedeutung der Religion in diesem Zusammenhang kann der Rolle des ÖRK bei der Suche nach einem Frieden, der mehr ist als die blosse Abwesenheit von gewaltsamen Konflikten, eine zentrale Rolle zukommen. Ausserdem stellt der „Stresstest“ der jüngsten ÖRK-Vollversammlung – und auf welche Weise die ROK-Delegation daran teilgenommen hatte – eine hinreichende Basis dar, auf der man aufbauen kann.

Ebenso wie das Centre for Humanitarian Dialogue wird der ÖRK-Sitz in Genf als förderlicher Faktor beim Anstreben solcher Initiativen gesehen, trotz der Beteiligung der schweizerischen Bundesregierung an den internationalen Sanktionen gegen Russland. Die Rolle des Internationalen Genfs als Raum zur Ermöglichung von Diplomatie und Dialog bleibt von deutlichem und nachweislichem Wert, selbst – oder vielleicht besonders – in einer Welt, in der sich das geopolitische Terrain, die entsprechende Haltung der Staaten und die Bedeutsamkeit nichtstaatlicher Akteure so merklich verändert haben.


Über den Autor

Peter Prove ist Leiter der Kommission der Kirchen für internationale Angelegenheiten (KKIA) beim Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK). Er besitzt einen Bachelor of Arts und einen LLM in Rechtswissenschaften von der University of Queensland.


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